(Stand 01.01.2024 – vgl. BGBl. 2023 I Nr. 287)
Prof. Dr. Dieter Zimmermann (Senior-Prof. an der Evang. Hochschule Darmstadt)
Im Rahmen des Schuldnerschutzes bei Zwangsvollstreckungsmaßnahmen sowie bei privilegierten Aufrechnungen/Verrechnungen von Sozialleistungen ist der Nachweis des „sozialrechtlichen Existenzminimums“ insbesondere in den nachfolgend beschriebenen Fallgestaltungen von Bedeutung.
I.
Wegen laufender Unterhaltsansprüche sowie wegen der Unterhaltsrückstände – zumindest! – aus dem letzten Jahr können Unterhaltsberechtigte eine Pfändung in den Vorrechtsbereich nach § 850d ZPO beantragen. Das Vollstreckungsgericht bestimmt daraufhin nach § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO unabhängig vom Grundfreibetrag laut Pfändungstabelle, aber auch unabhängig vom unterhaltsrechtlichen Selbstbehalt laut Düsseldorfer Tabelle den „notwendigen Lebensunterhalt“ des Unterhaltsverpflichteten.
Entsprechend der sozialrechtlichen Systematik sollte sich die Berechnung des unpfändbaren notwendigen Unterhalts des erwerbsfähigen/erwerbstätigen Schuldners eigentlich nach dem SGB II richten (so auch Ahrens in Prütting/Gehrlein, ZPO, 13. Aufl., § 850d Rn. 17ff. m.w.N.; LG Darmstadt 5 T 53/07 vom 26.04.2007 = ZVI 2007, 365 ff.).
Demgegenüber stellt die BGH-Rechtsprechung generell (und nicht nur bei Erwerbsunfähigen) auf den notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des 3. und 11. Kapitels des SGB XII ab (vgl. BGH VII ZB 17/09 vom 05.08.2010; Zöller/Herget, ZPO, 33. Aufl. § 850d Rdn. 7).
Beratungsrelevanz:
Werden Unterhaltsverpflichtete beraten, deren laufende Einkünfte nach § 850d ZPO oder deren Kontoguthaben nach §§ 906 Abs. 1 i.V.m. 850d ZPO einschließlich des Vorrechtsbereichs gepfändet sind, sollte immer der im Pfändungs- und Überweisungsbeschluss konkret zu beziffernde Auszahlungsbetrag anhand der nachstehend abgedruckten SGB XII-Bescheinigung mit Stand 01.01.2024 überprüft werden.
Entspricht der vom Vollstreckungsgericht meist nur grob geschätzte(!) unpfändbare Betrag nicht dem fiktiven sozialhilferechtlichen Existenzminimum, ist ein entsprechender Schuldnerschutzantrag nach § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu initiieren bzw. Erinnerung nach § 766 ZPO einzulegen, um den „notwendigen Lebensunterhalt“ entsprechend anheben zu lassen.
II. Pfändung in den Vorrechtsbereich nach § 850f Abs. 2 ZPO
In vergleichbarer Weise kann ein Deliktsopfer, dessen Vollstreckungstitel den Schadensersatzanspruch aus vorsätzlich(!) begangener unerlaubter Handlung ausdrücklich ausweisen muss (ein Vollstreckungsbescheid genügt mangels Schlüssigkeitsprüfung nicht), auf den Vorrechtsbereich gemäß § 850f Abs. 2 ZPO zugreifen. Das heißt, auch Deliktsopfer sind nicht an die üblichen Pfändungsfreigrenzen laut Pfändungstabelle gebunden. Auch hier hat das Vollstreckungsgericht von Amts wegen den „notwendigen Lebensunterhalt“ des Schuldners als Existenzminimum zu bestimmen.
Zusätzlich sind diesem allerdings die Mittel zu belassen, die er zur Erfüllung seiner gesetzlichen Unterhaltsverpflichtungen benötigt. Das heißt, die gesetzlichen Unterhaltsansprüche gehen dem deliktischen Schadensersatz vor.
Herget will im Einklang mit dem BGH auch hier allein auf den notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des 3. und 11. Kapitels des SGB XII abstellen (vgl. Zöller/Herget, ZPO, 33. Aufl. § 850f Rdn. 10; BGH VII ZB 7/11 vom 06.04.2011). Aber da in § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO ausdrücklich zwischen dem „notwendigen Lebensunterhalt“ nach SGB XII einerseits und nach Kapitel 3 Abschnitt 2 des SGB II andererseits differenziert wird, ist hier – systemkonform – zwischen erwerbsfähigen und nicht-erwerbsfähigen Schuldnern zu differenzieren (so auch LG Frankfurt 2-9 T 78/11 vom 06.04.2011 = Rpfleger 2011, 543-544).
Beratungsrelevanz:
Die SGB XII-Bescheinigung kommt beim Schuldnerschutz nach §850f Abs.2 ZPO nur zugunsten nicht-erwerbsfähiger Schuldner zum Einsatz, um insbesondere bei einer Vorrechtsbereichs-Pfändung in Altersrenten, in „volle“ Erwerbsminderungsrenten (für nicht erwerbsfähige Kranke und Behinderte) und beim Bezug von Übergangsgeld die Pfändungsgrenze mit Hilfe des Vollstreckungsgerichts auf den fiktiven SGB XII-Bedarf anheben zu lassen.
Bei Erwerbsfähigen bzw. Erwerbstätigen ist der vom Vollstreckungsgericht festgesetzte unpfändbare Betrag anhand der SGB II-Bescheinigung zu überprüfen.
Ggf. ist auch hier ein entsprechender Schuldnerschutzantrag nach § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu initiieren bzw. Erinnerung nach § 766 ZPO einzulegen, um den unpfändbaren Betrag für den „notwendigen Lebensunterhalt“ entsprechend anheben zu lassen.
III.
Kommt es wegen privilegierter SGB-Erstattungsansprüche oder wegen rückständiger SGB-Beiträge zur Aufrechnung bzw. Verrechnung von Sozialleistungen, darf nach §§ 51 Abs. 2, 52 SGB I grundsätzlich die Hälfte der Sozialleistung einbehalten werden. Hier obliegt es dem Leistungsempfänger/Schuldner, seine drohende Hilfebedürftigkeit nach SGB II oder SGB XII nachzuweisen und auf diesem Wege die Aufrechnung/Verrechnung zu begrenzen oder ganz abzuwenden.
Beratungsrelevanz:
Gefährdet die Aufrechnung/Verrechnung mit der hälftigen Sozialleistung die wirtschaftliche Existenz des Leistungsempfängers/Schuldners, muss er aktiv werden und dem Sozialleistungsträger nachweisen, dass sein notwendiger Lebensunterhalt nicht mehr gesichert ist. Seit 2005 liegt die Beweislast beim Schuldner.
Kann im Einzelfall – z.B. im Rahmen einer Anhörung, welche jeder Aufrechnung/Verrechnung vorauszugehen hat – kein aktueller Sozialhilfe- oder Bürgergeld-Bescheid vorgelegt werden, ist der Nachweis möglichst durch die entsprechende Bedarfsbescheinigung des Sozialhilfeträgers nach SGB XII oder des Jobcenters nach SGB II zu führen.
Zusätzlich zur entsprechenden Bedarfsbescheinigung wäre nachzuweisen, dass kein verwertbares Vermögen vorhanden ist (z.B. durch Verweis auf eine kürzlich abgegebene Vermögensauskunft, auf eine Pfandlosbescheinigung oder die Insolvenzeröffnung).
Exkurs zu Nachzahlungen:
Rückwirkend lässt sich keine Bedürftigkeit einwenden, so dass bei etwaigen Nachzahlungen (z.B. Sozialrente, Übergangsgeld, Krankengeld) immer der halbe Nachzahlungsbetrag aufgerechnet bzw. verrechnet werden kann.
IV. Unterschiede zwischen SGB II- und SGB XII-Bescheinigung
Die praktischen Auswirkungen, ob das Existenzminimum nach SGB II oder nach SGB XII bestimmt wird, sind relativ gering. Die erneut zu Jahresbeginn 2024 spürbar erhöhten Regelbedarfe und Pauschalbeträge bei dezentraler Warmwasserbereitung sowie die dynamisierten Bedarfe für Bildung und Teilhabe sind in SGB II und XII identisch. Auch sind ab Juli 2023 die Einkünfte bis 520 € bei unter 25-Jährigen in Ausbildung/Freiwilligendienst pauschal abzusetzen (vgl. § 11b Abs. 2b SGB II bzw. § 82 Abs. 1 Nr. 7 SGB XII).
Folgende Besonderheiten, die allerdings zu keinen gravierend anderen Bedarfsbeträgen führen, gilt es festzuhalten:
- Das SGB XII kennt keinen pauschalen (Mindest-)Absetzbetrag vom eigenen Einkommen in Höhe von 100 EUR für Versicherungen, Altersvorsorge und Werbungskosten.
Deshalb sind im Rahmen der SGB XII-Bescheinigung alle Absetzbeträge einzeln nachzuweisen (vgl. Nr. 7 der SGB XII-Bescheinigung). - Als pauschaler Erwerbstätigen-Absetzbetrag sind nach SGB XII stets 30% des Einkommens zu berücksichtigen – allerdings gemäß § 82 Abs. 3 SGB XII nach oben begrenzt durch die Hälfte der Regelbedarfsstufe 1 (vgl. Nr. 8 der SGB XII-Bescheinigung bzw. Nr. 5 der Excel-Datei). Somit kann der pauschale Absetzbetrag bei Erwerbstätigkeit nach SGB XII in 2024 auf maximal 281,50 Euro ansteigen.
- Im SGB II ist der pauschale Erwerbstätigen-Absetzbetrag nun in drei Stufen aufgeteilt:
Er beträgt zwischen 100 EUR und bis zu 520 EUR 20% des Bruttoeinkommens (max. 84 EUR) sowie über 520 EUR und bis zu 1.000 EUR 30% des Bruttoeinkommens (max. 144 EUR). Hinzu kommen 10% des darüber hinaus erzielten Bruttoeinkommens (vgl. Nr. 5.2 der SGB II-Bescheinigung sowie der Excel-Datei). Bei kinderlosen Bedarfsgemeinschaften liegt die Obergrenze bei maximal 1.200 EUR; bei Schuldnern mit mindestens einem minderjährigen Kind in der Bedarfsgemeinschaft fließt das Bruttoeinkommen bis maximal 1.500 EUR in die Berechnung ein.
Ab Juli 2023 beläuft sich somit der pauschale Erwerbstätigen-Absetzbetrag ohne Kind auf maximal 248 EUR und mit Kind(ern) in der Bedarfsgemeinschaft auf maximal 278 EUR.
Zusammen mit der SGB II-Absetzpauschale von 100 EUR für Versicherung, Altersvorsorge und Werbungskosten ist somit für den erwerbstätigen Schuldner ein pauschaler (Mehr)Bedarf von immerhin 348 bzw. 378 EUR zu berücksichtigen. - Unterschiede bestehen auch bei der Berücksichtigung von Versicherungsbeiträgen (nur das SGB II kennt den pauschalen Absetzbetrag von 30 EUR), bei der Arbeitsmittelpauschale (gibt es nur noch im SGB XII in Höhe von 5,20 EUR), bei den Pendlerkosten, bei der doppelten Haushaltsführung und bei der Berücksichtigung von RIESTER-Einzahlungen.
- Hingegen finden sich sowohl der „unabweisbare Sonderbedarf“ (z.B. wegen der Kosten des Umgangsrechts, wegen Pflegehilfe, Hygienebedarfs oder krankheitsbedingten Mehraufwands), als auch ein jüngst neu kodifizierter „Mehrbedarf für die Anschaffung/Ausleihe notwendiger Schulbücher/Arbeitshefte“ (vgl. § 30 Abs. 9 SGB XII-2022 bzw. § 21 Abs. 6a SGB II-2022), der um die schulisch notwendigen digitalen Endgeräte erweitert werden muss, in beiden Garantiebescheinigungen.
- Ein Absetzbetrag beim Bezug einer Rente aus langjähriger Versicherung, d.h. nach mindestens 33 Jahren Grundrentenzeiten o.Ä., ist seit 2021 in § 82a SGB XII im Detail normiert, worauf §11b Abs. 2a SGB II verweist.
- Den Absetzbetrag beim Bezug einer zusätzlichen Altersvorsorge, insbesondere per Betriebsrente oder RIESTER-Vertrag, kennt hingegen nur die SGB XII-Bescheinigung in Umsetzung der Absätze 4 und 5 des § 82 SGB XII.
V. Fazit
Die Schuldner- und Insolvenzberatung sowie viele Sozialleistungsträger bedienen sich zum Nachweis des „sozialrechtlichen Existenzminimums“ der beiden nachstehend abgedruckten Musterbescheinigungen, die in den Infodiensten der Schuldnerberatung vielfach publiziert sind und von Freeman/Zimmermann in ZVI 2011, S. 153-159 sowie im „Praxishandbuch Schuldnerberatung“ (Hrsg. Groth/Homann/Hornung/Maltry u.a., 31. Aufl. Luchterhand-Verlag 2023) eingehend erläutert werden.
Die SGB II-Garantiebescheinigung sollte eigentlich das örtliche Jobcenter ausstellen und die SGB XII-Bescheinigung das örtliche Sozialamt. Verweigert der Sozialleistungsträger vor Ort diese freiwillige Serviceleistung, muss unmittelbar im Schuldnerschutzantrag der (fiktive) SGB II- bzw. SGB XII-Bedarf mit Hilfe der passenden Bescheinigung dargelegt und mittels Belegen umfassend unterfüttert werden.
Die Vorlagen mit Stand 01.01.2024 für die Bedarfsbescheinigungen nach SGB II und nach SGB XII finden Sie nachfolgend zum Download als PDF-Dateien oder als Excel-Version (sog. Vorlagendateien *.xltx) mit automatischer Berechnung nach Erfassung aller Daten.
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