10. März 2010

Martin Langenbahn, Ass. Jur., Caritasverband Karlsruhe e.V.

Eine Schuldnerberatung beginnt methodisch meist damit, dass man versucht, sich einen Überblick über die Situation der ratsuchenden Person und über die Art, Höhe und Anzahl der bestehenden Forderungen zu verschaffen.

Eine wichtige Informationsquelle hierfür sind regelmäßig die Unterlagen des Schuldners, die Hinweise auf bestehende Verbindlichkeiten bieten. Dies sind vor allem Verträge (z.B. Kredite, Mietverträge, Mobilfunkverträge) aber auch Rechnungen, Mahnschreiben, Mahn- und Vollstreckungsbescheide usw.

Immer wieder kommt es aber vor, dass uns der Schuldner auf unsere erwartungsvolle Frage nach solchen Unterlagen mit trauriger Miene erklärt, diese seien sämtlichst abhanden gekommen oder ihm nicht mehr zugänglich. Manchmal sind die Unterlagen bei diversen Umzügen oder gar einem Hausbrand verloren gegangen. Oder die Ex-Frau/der Ex-Mann hat davon ein Freudenfeuer entzündet. In solchen Fällen höherer oder weniger hoher Gewalt ist natürlich guter Rat teuer. Denn wie soll man mit den Gläubigern verhandeln, wenn man sie nicht kennt und der Schuldner völlig den Überblick über seine Verbindlichkeiten verloren hat?

Manchmal bleibt dann nichts anderes übrig, als einen SCHUFA-Auszug zu besorgen, Gerichtsvollzieher und Vollstreckungsgericht wegen früherer oder laufender Zwangsvollstreckungen um Auskunft zu ersuchen, oder/und einige Monate abzuwarten, bis der Schuldner – zumindest von den meisten Gläubigern – wieder Post erhalten hat.

Ein weiterer Fall fehlender Verfügbarkeit von Schuldnerunterlagen ist die Weigerung von Rechtsanwälten, Schuldnerunterlagen herauszugeben, solange noch offene Honorarforderungen gegen den Schuldner bestehen.

Besonders gravierend ist dies, wenn der Schuldner vor dem Aufsuchen einer Beratungsstelle einen Rechtsanwalt aufgesucht und diesen mit der Durchführung eines außergerichtlichen Einigungsversuchs beauftragt hat, dann aber das Anwaltshonorar nicht mehr zahlen konnte, weil er zwischenzeitlich zahlungsunfähig geworden war. In diesem Fall wurden dem Rechtsanwalt zuvor meist sämtliche für die Schuldnerberatung notwendigen Unterlagen übergeben, so dass sich zwingend die Frage stellt: gibt es eine Möglichkeit auch ohne – vollständige – Zahlung des Anwalts an die Unterlagen heranzukommen oder anders gesagt: darf der Rechtsanwalt tatsächlich die Unterlagen zurückhalten?

Zurückbehaltungsrecht des Rechtsanwalts

Zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten besteht ein Dienstvertrag (der Anwaltsvertrag), in dessen Rahmen der Anwalt entgeltlich Geschäfte für den Mandanten vornimmt, §§ 675,662 BGB 2).

In diesem Rahmen trifft den Anwalt eine Herausgabepflicht an allem, was er aus der Beauftragung erlangt hat, also auch den Schuldnerunterlagen, § 667 BGB 3)

Für Anwaltsverträge gibt es aber eine besondere Regelung in Bezug auf die anwaltliche Handakte, also den Schriftstücken, die der Rechtsanwalt aus Anlass seiner beruflichen Tätigkeit von dem Auftraggeber erhalten hat: § 50 BRAO 4).

Dort heißt es in Absatz 3:

„Der Rechtsanwalt kann seinem Auftraggeber die Herausgabe der Handakten verweigern, bis er wegen seiner Gebühren und Auslagen befriedigt ist. Dies gilt nicht, soweit die Vorenthaltung der Handakten oder einzelner Schriftstücke nach den Umständen unangemessen wäre.“

Dieses sogenannte Zurückbehaltungsrecht des Rechtsanwalts ist ein Sonderrecht.

Eine vergleichbare Vorschrift gibt es noch für Steuerberater in § 66 Abs. 4 Steuerberatungsgesetz und Wirtschaftsprüfer in § 51b Abs. 3 Wirtschaftsprüfungsordnung.

Ein Architekt, Immobilienmakler, ein Reisebüro usw. haben dieses Zurückbehaltungsrecht wegen offener Gebührenforderungen nicht.

Sinn dieser Sonderregelung ist nach Meinung des Bundesgerichtshofes, es dem Anwalt durch dieses Druckmittel zu ermöglichen, seine Ansprüche ohne Gerichtsprozess gegen seinen Auftraggeber durchzusetzen 5). Der Gesetzgeber gibt also dem Rechtsanwalt ein zusätzliches Druckmittel zur Eintreibung seiner Honorarforderung an die Hand, um die Gerichte zu entlasten.

Dies mag man angesichts der Funktion des Rechtsanwalts als „Organ der Rechtspflege“ 6) auch rechtfertigen können. Da der Anwalt hier aber sozusagen als Richter in eigener Sache 7) handelt und ihm eine besondere Verantwortung auferlegt wird, muss aber dennoch im Einzelfall genau geprüft werden, ob die Ausübung des anwaltlichen Zurückbehaltungsrechts auch angemessen ist, § 50 Abs.3 Satz 2 BRAO:

„Dies gilt nicht, soweit die Vorenthaltung der Handakten oder einzelner Schriftstücke nach den Umständen unangemessen wäre.“

Verletzt der Anwalt den Grundsatz der Angemessenheit und enthält dem Mandanten die Unterlagen unberechtigt vor, kann dies sowohl eine berufsrechtliche Sanktion durch die Anrufung der bei den Rechtsanwaltskammern angesiedelten Standesgerichte als auch zivilrechtliche Schadensersatzansprüche nach sich ziehen.

Unzulässige Ausübung des Zurückbehaltungsrechts

Grundsätzlich darf also der Rechtsanwalt die Herausgabe von Unterlagen in der Handakte verweigern, bis er wegen seiner Gebühren und Auslagen befriedigt ist.

Die Verweigerung ist aber unzulässig, wenn und soweit sie unangemessen ist, § 50 Abs. 3 Satz 2 BRAO.

Zunächst einmal ist der Rechtsanwalt verpflichtet, dem Mandanten eine aufgeschlüsselte Kostenrechnung nach § 10 RVG (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz) 8) zur Verfügung zu stellen, damit dieser überhaupt prüfen kann, ob die Berechnung kostenrechtlich korrekt ist 9).

Ob die Ausübung des Zurückbehaltungsrechtes zulässig ist, kann immer nur für den Einzelfall beantwortet werden. Als Anhaltspunkt sollte hier der Zweck des Zurückbehaltungsrechtes herangezogen werden. Dieses Recht ist eine besondere Ausformung des Grundsatzes von Treu und Glauben, der in § 242 BGB niedergelegt ist.

Der übliche Nachteil für den Mandanten durch Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechtes an den Handakten, dass ihm damit meist die weitere Wahrung und Verfolgung seiner Interessen erschwert, unter Umständen unmöglich ist, könne dabei außer acht gelassen werden, da es ja gerade Sinn und Zweck des Zurückbehaltungsrechtes sei, den Auftraggeber zur Erfüllung der berechtigten Ansprüche des Rechtsanwalts zu zwingen 10).

Anerkannte Fälle der unzulässigen Herausgabeverweigerung sind dabei:

Der Rechtsanwalt hält die Unterlagen wegen einer Gebührenforderung zurück, die bereits seit mehr als einem Jahr verjährt ist 11). Zwar schließt die Verjährung der Forderung die Ausübung des Zurückbehaltungsrechtes nicht aus, § 215 BGB 12). Liegt die Verjährung jedoch längere Zeit zurück, kann die Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechtes unangemessen sein.

Der Rechtsanwalt hält die Unterlagen wegen einer verhältnismäßigen Geringfügigkeit der geschuldeten Beträge zurück, während das Zurückbehalten der Unterlagen für den Mandanten von maßgeblicher Bedeutung ist 13).

Das dürfte bei den für uns relevanten Fällen dann der Fall sein, wenn bis auf einen geringfügigen Bruchteil die Honorarforderung beglichen wurde, dem Mandanten aber unmittelbar Zwangsvollstreckungsmaßnahmen drohen, die er nicht abwenden kann, weil ihm die Gläubigerunterlagen nicht zur Verfügung stehen.

Der BGH hat mit Urteil v. 03.07.1997 (NJW 1997 S. 2944) in einer Anwaltssache entschieden, dass nur solche Geschäftsunterlagen eines Mandanten zurückbehalten werden dürfen, die sich auf den Auftragsteil beziehen, aus dem der Rechtsanwalt noch Honoraransprüche besitzt. Honorarforderungen aus anderen Aufträgen desselben Mandanten dürften grundsätzlich nicht mit einbezogen werden. Das Zurückbehaltungsrecht bestehe vielmehr in aller Regel nur wegen der Forderung, die sich aus der konkreten Angelegenheit ergebe, auf die sich die zurückbehaltende Handakte bezieht. Der Rechtsanwalt darf also dem Mandanten nicht die Herausgabe von Gläubigerschreiben verweigern, weil noch eine offene Honorarforderung aus z.B. einer Scheidungssache besteht.

Der Rechtsanwalt darf die Herausgabe nicht verweigern, wenn ihm eine ausreichende Sicherheit für seine Forderung gestellt wird, z.B. durch eine Bürgschaft einer solventen dritten Person oder eine Forderungsabtretung für zukünftige Steuererstattungsforderungen (wenn nach Auskunft des Finanzamtes mit einer Rückerstattung zu rechnen ist).
Die Ausübung des Zurückbehaltungsrechtes kann vom Auftraggeber auch durch Hinterlegung eines der Höhe der Honorarforderung entsprechenden Geldbetrages (vgl. § 232 BGB), abgewendet werden, § 273 Abs. 3 BGB (LG Heidelberg, Urteil v. 29.09.1997, MDR 1998 S. 188). Hinterlegungsstelle ist gem. § 1 HinterlO das Amtsgericht. Abweichende Vereinbarungen, wie z. B. Hinterlegung beim Notar oder Einrichtung eines Treuhandkontos, sind zulässig.

Der wichtigste Fall dürfte für uns aber sein die nachgewiesene Zahlungsunfähigkeit des Schuldners. Wenn dieser gar nicht in der Lage ist, den Gebührenanspruch des Anwalts zu begleichen, handelt der Anwalt treuwidrig, wenn er die Herausgabe der Unterlagen weiter verweigert. Das dürfte z.B. ohne weiteres zutreffen, wenn der Schuldner bereits die eidesstattliche Versicherung abgegeben hat oder bereits fruchtlose Vollstreckungsversuche stattgefunden haben.

Hier kommt noch ein weiteres wichtiges Argument hinzu, wenn der Schuldner die Unterlagen benötigt, um einen Insolvenzantrag zu stellen und Restschuldbefreiung zu beantragen.

In einem eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen des Mandanten (=Insolvenzschuldner) könnte der Rechtsanwalt sein Zurückbehaltungsrecht anerkanntermaßen nicht geltend machen 14). Wegen des öffentlichen Interesses an einer ordnungsgemäßen und raschen Abwicklung des Insolvenzverfahrens ist ihm das verwehrt 15). Der Insolvenzverwalter ist ermächtigt und verpflichtet, das gesamte zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen sofort nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zum Zwecke der Verwaltung und Verwertung heranzuziehen, § 148 Insolvenzordnung 16). Der Insolvenzverwalter kann daher diejenigen Teile der Handakte, die eine die Masse betreffende Angelegenheit zum Gegenstand haben, herausverlangen 17).

Wenn aber der Rechtsanwalt gegenüber dem Insolvenzverwalter unstreitig zur Herausgabe der Gläubigerunterlagen verpflichtet wäre, dann darf er nach Treu und Glauben auch nicht dem Mandanten und Schuldner, der die Unterlagen benötigt, um einen Insolvenzantrag überhaupt stellen zu können 18), die Herausgabe verweigern.

Es ist ein anerkannter Fall des Grundsatzes von Treu und Glauben, dass etwas nicht herausverlangt werden darf, was sogleich wieder zurückzugeben wäre: dolo facit qui petit quod statim rediturus est. Das gleiche muss aber für den Fall gelten, dass jemand die Herausgabe einer Sache (an den Mandanten) verweigert, wenn er sie kurze Zeit später (nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens) ohnehin an den Insolvenzverwalter herausgeben müsste!

Wir fassen also zusammen:

Der Rechtsanwalt hat grundsätzlich ein Zurückbehaltungsrecht an den vom Mandanten beigebrachten Unterlagen, solange er nicht hinsichtlich seiner Gebühren und Auslagen befriedigt worden ist.

Das Zurückbehaltungsrecht findet seine Grenze im Grundsatz von Treu und Glauben, § 242 BGB. Der Anwalt hat kein Zurückbehaltungsrecht, wenn die Gebührenforderung bereits längere Zeit verjährt ist, die (Rest-) Forderung des Anwaltes nur gering ist, der Schuldner erwiesenermaßen zahlungsunfähig ist und/oder ein Antrag auf Eröffnung eines (Verbraucher-)Insolvenzverfahrens mit Restschuldbefreiung gestellt werden soll.

Handlungsmöglichkeiten bei unzulässiger Herausgabeverweigerung des Rechtsanwalts

In diesem Fall sollte man sich zunächst an die zuständige Anwaltskammer wenden und dort den Fall schildern. Die Anwaltskammer kann dann zwischen Anwalt und Mandant vermitteln. Sollte dies nicht helfen, bleibt nur – wiederum bei der Anwaltskammer – eine Rüge wegen Verletzung anwaltlichen Standesrechts zu beantragen und gegebenenfalls eine Klage gehen den Rechtsanwalt auf Herausgabe der Unterlegen zu erheben.


1) Aristoteles: Nikomachische Ethik

2) § 675 Entgeltliche Geschäftsbesorgung
(1) Auf einen Dienstvertrag oder einen Werkvertrag, der eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand hat, finden, soweit in diesem Untertitel nichts Abweichendes bestimmt wird, die Vorschriften der §§ 663, 665 bis 670, 672 bis 674 und, wenn dem Verpflichteten das Recht zusteht, ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist zu kündigen, auch die Vorschrift des § 671 Abs. 2 entsprechende Anwendung.

3) § 667 Herausgabepflicht
Der Beauftragte ist verpflichtet, dem Auftraggeber alles, was er zur Ausführung des Auftrags erhält und was er aus der Geschäftsbesorgung erlangt, herauszugeben.

4) Bundesrechtsanwaltsordnung; dieses Gesetz regelt u.a. Rechte und Pflichten des Rechtsanwalts aus dem Mandantenverhältnis; nicht zu verwechseln mit der früheren BRAGO, die 2008 durch das RVG(Rechtsanwaltsvergütungsgesetz) ersetzt wurde

5) BGH in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW) 1997, S.2944

6) § 1 BRAO: Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege.

7) Hessler/Prütting/Stobbe, BRAO, 3. Aufl.,2010, § 50 Rz.39

8) § 10 RVG Berechnung

(1) Der Rechtsanwalt kann die Vergütung nur aufgrund einer von ihm unterzeichneten und dem Auftraggeber mitgeteilten Berechnung einfordern. Der Lauf der Verjährungsfrist ist von der Mitteilung der Berechnung nicht abhängig.

(2) In der Berechnung sind die Beträge der einzelnen Gebühren und Auslagen, Vorschüsse, eine kurze Bezeichnung des jeweiligen Gebührentatbestands, die Bezeichnung der Auslagen sowie die angewandten Nummern des Vergütungsverzeichnisses und bei Gebühren, die nach dem Gegenstandswert berechnet sind, auch dieser anzugeben. Bei Entgelten für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen genügt die Angabe des Gesamtbetrags.

9) Hessler/Prütting/Stobbe, BRAO, 3. Aufl.,2010, § 50 Rz.33

10) Feuerich/Weyland, BRAO Kommentar, 7.Aufl., 2008, § 50 Rz. 22

11) Feuerich/Weyland, BRAO Kommentar, 7.Aufl., 2008, § 50 Rz. 21

12) § 215 Aufrechnung und Zurückbehaltungsrecht nach Eintritt der Verjährung
Die Verjährung schließt die Aufrechnung und die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts nicht aus, wenn der Anspruch in dem Zeitpunkt noch nicht verjährt war, in dem erstmals aufgerechnet oder die Leistung verweigert werden konnte.

13) BGH, Urteil v. 13.07.1970, NJW 1970 S. 2019

14) BGHZ (Amtliche Entscheidungssachen des BGH in Zivilsachen), Band 7, S. 260

15) Feuerich/Weyland, BRAO Kommentar, 7.Aufl., 2008, § 50 Rz. 30

16) § 148 Übernahme der Insolvenzmasse
(1) Nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat der Insolvenzverwalter das gesamte zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen sofort in Besitz und Verwaltung zu nehmen.

17) Feuerich/Weyland, BRAO Kommentar, 7.Aufl., 2008, § 50 Rz. 30

18) Dem Schuldner droht nach 3 290 Abs.1 Nr.6 InsO die Versagung der Restschuldbefreiung auf Antrag eines Gläubigers, wenn er seine Gläubiger nicht vollständig angegeben hat.