20. September 2011

Frank Schneemilch, Schuldner- und Insolvenzberater, Neue Arbeit gGmbH Stuttgart

Nach erfolgreichem Abschluss des einjährigen Fortbildungsseminars „Systemische Handlungsmodelle in der Schuldnerberatung“ möchte ich gerne meine Abschlussarbeit vorstellen. Ich war bereits seit einigen Jahren in der Schuldner- und Insolvenzberatung tätig und hatte den Wunsch, neue Sichtweisen auf den Beratungsvorgang  und die Interaktion zwischen Berater und Klient kennen zu lernen. Der systemische Beratungsansatz war mir völlig neu und erschien mir am Anfang der Ausbildung allzu „exotisch“.

Auf theoretische Erläuterungen zum systemischen Ansatz soll an dieser Stelle  bewusst verzichtet werden1. Es liegt mir mehr daran, interessierten Kollegen einen Eindruck zu geben, welche, ganz persönlichen, Auswirkungen die Anwendung systemischer Handlungsmodelle auf die tägliche Beratungspraxis haben können.

Der erste Fall hat mich über das gesamte Jahr der Ausbildung begleitet.

„Wenn Du weißt, was funktioniert, mach mehr davon!“
Insoo Kim Berg

Ich möchte diese Regel dem Fallbericht voranstellen, weil ich einerseits der Meinung bin, dass dieser Fall aufgrund der Nutzung von gelernten systemischen Ansätzen zu einer positiven Wendung gekommen ist, andererseits mir  bis heute nicht klar ist, was im einzelnen funktioniert hat.

Zur Familie T.

Wolfgang T., geb. 05.09.53, Ute T. geb. 03.04.56, verheiratet seit 1996. Sohn Thorsten geb. 09.08.91

Herr T. ist seit einigen Jahren arbeitslos. Z.Z. arbeitet er als sog. 1,- Euro-Jobber in unserem Sozialunternehmen im Bereich Garten- und Landschaftsbau. Er hat keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung. Die Familie ist auf AlG II/Hartz IV angewiesen.

Frau T. ist aufgrund ihres psychischen und körperlichen Zustandes bereits erwerbsunfähig und verrentet. Sie ist seit ihrer Jugend immer wieder in psychiatrischer Behandlung. Außerdem leidet sie unter degenerativen Erkrankungen (Gichtarthropathie und Gonarthrose). Wie ihr Mann hat sie auch keinen Beruf- oder Schulabschluss.

Thorsten T. hat seinen Hauptschulabschluss mit 18 Jahren geschafft. Mit Unterstützung des Jugendamtes  und eines engagierten Sozialpädagogen der Diakonie ist es gelungen ihn inzwischen in eine Lehrstelle zu vermitteln, nachdem er ca. ein Jahr arbeitslos war.

Verlauf

Vorgespräch

Beim ersten Gespräch am  28.01.10 erschien Herr T. alleine. Im Rahmen des Case-Managements wurde ihm von einer Beraterin des betrieblichen Sozialdienstes empfohlen, die Schuldnerberatung aufzusuchen, da er ständig Vorschüsse holte und der Verdacht nahe lag, dass er Schulden habe.

Es hat sich gezeigt, dass Schuldnerberatung ein Türöffner sein kann, um nach den finanziellen Problemen, auch viel tiefer gehende persönliche Probleme ansprechen zu können.

Herr T. war von der Grundeinstellung misstrauisch. Ich habe beschlossen, ihn nicht weiter zu drängen aus seinem Privatleben  zu erzählen, sondern vertrauensbildende Maßnahmen ergriffen, das heißt, ich legte eine Akte an und fragte seine Personendaten ab und legte ihm eine Vollmacht zur Legitimation meiner Beauftragung zur Unterschrift vor. Es erforderte Mühe, sich ein erstes Bild von der finanziellen und persönlichen Situation zu machen.  Wir kamen überein, dass er zuerst einmal die Anschreiben der Gläubiger sortieren sollte und das weitere beim nächsten Gespräch besprochen werden sollte.

Eine Zielvereinbarung im systemischen Sinne fand noch nicht statt, da das Seminar noch nicht angefangen hatte.

Herr T. machte den Eindruck eines Menschen, der bereits viel Erfahrung im Umgang mit sozialen Einrichtungen hatte und deren Dienste möglichst effektiv für sich zu nutzen versuchte, ohne aber selbst in Verantwortung zu treten, sondern seine Probleme abzuschieben. Seine Stimmungen gegenüber den Beratern wechselten dabei von misstrauisch und ablehnend bis fast unterwürfig (placating/blaming)2.

1. Beratungsgespräch

Mitte Februar 2010 brachte Herr T. die erforderlichen Unterlagen, wie Rechnungen, Mahnungen, Vollstreckungsbescheide. Schon bei erster Durchsicht stellte ich fest, dass die Schulden nicht nur Ihn betrafen, sondern auch die Ehefrau und den Sohn. Herr T.reagierte auf Fragen zur Entstehung der Schulden schnell ärgerlich und aggressiv

Berater: Ich stelle fest, dass Sie „Pay-TV“ abonniert haben, trotz Ihres geringen Einkommens?
Herr T.: Man hat ja sonst nichts vom Leben in meiner Situation!
Berater: Ihre Telefonrechnungen sind ja ganz enorm hoch, wie kann das sein?
Herr T.: Fragen Sie doch meine Frau, die telefoniert den ganzen Tag.
Berater: Mir erscheinen Ihre Mietkosten außergewöhnlich hoch. Meinen Sie nicht?
Herr T.: Ich musste doch so eine große Wohnung nehmen wegen meinem Sohn, das ging nicht anders. Was hätt´ ich denn machen sollen? Meine Frau wollte das so!

Aus heutiger Sicht zeigt sich bei diesem Gespräch das streng lineare3 Denken und Vorgehen, das vor unserem Seminar meine Beratungen beherrschte.

Es handelte sich also um ein Familienproblem. Für mich stellte sich die Familiensituation  so dar:

In der Familie hat sich die Verbindung Arbeitslosigkeit/Abhängigkeit von Sozialleistungen/Armut/Schulden schon seit langem festgesetzt. Es ist ein Teufelskreis entstanden. Herr T. ist langzeitarbeitslos, Frau T. hatte in Ihrem gesamten Arbeitsleben keine Arbeit länger als sechs Monate am Stück. Der damals 19 jährige Thorsten war im Begriff, diese Familientradition nahtlos fortzusetzen.

Nach diesem Gespräch vergingen einige Monate mit dem üblichen Procedere d.h. Erstanschreiben an die Gläubiger  mit kurzer Darstellung der finanziellen Situation und Bitte um Forderungsaufstellungen, Forderungsprüfung usw. In dieser Zeit hat sich Herr T., auf meine Bitte hin, ca. alle drei Wochen telefonisch bei mir gemeldet.

Wenige Wochen später fand das erste Modul des Seminars statt, dass einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterließ.

In der Folgezeit nahm ich verschiedene wichtige Änderungen bezüglich der Ausstattung der Beratungsstelle vor. Zuerst wurde eine Besprechungsecke mit separatem Tisch und Stühlen eingerichtet und etwas gemütlich hergerichtet, einige Bilder aufgehängt, um eine entspanntere Atmosphäre zu schaffen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Beratung konfrontativ am Schreibtisch gemacht.

Dazu habe ich einen Satz Gliederpuppen, Lebenslinien und allerhand Steine, Fotokarten u.ä. besorgt und so ein ganz neues Setting geschaffen.

Es wurde mir bewusst, dass es in diesem Fall notwendig ist, die ganze Familie bzw. das System mit einzubeziehen. Daraufhin lud ich die drei Familienmitglieder zu einem Termin ein. Leider ist der Sohn Thorsten nicht zu dem Gespräch erschienen.

2. Beratungsgespräch (Juli 2010)

Dieses Gespräch habe ich versucht gründlich vorzubereiten. Ich habe das Telefon umgeleitet und ein „Bitte nicht stören“-Schild an der Tür angebracht. Um evtl. eine Skulptur zur Darstellung der augenblicklichen Familiensituation aufzustellen wurden Gliederpuppen und Zubehör bereitgestellt. Bei der Begrüßung und Vorstellung war ich darauf bedacht, gleich von Anfang für eine gelöste Stimmung zu sorgen.

Ziel des Gespräches aus meiner Sicht war die Darstellung der augenblicklichen Verschuldung beider. Die Verschuldung belief sich je auf einem Betrag von ca. 3.500,- €uro, allerdings bei vollkommen unterschiedlichen Gläubigern. Das heißt, die Familie war insgesamt mit ca. 7.000,- Euro in der Kreide. Hinzu kamen die Schulden von Thorsten mit ca. 1.000,- Euro aus einem  Handyvertrag. Aus eigener Kraft war es für Familie T. unmöglich diese Schulden abzubauen.

Zweitens sollte eine Auftragsklärung stattfinden.

Drittens Erstellung einer Einnahmen- und Ausgabenliste.

Viertens ging es darum, Ressourcen zu erkennen, auch und vor allem in materieller Hinsicht (Geld für Vergleichsverhandlungen von dritter Seite).

Ich nahm Rapport4 auf und merkte schnell, dass Herr T. sehr viel ruhiger war als bei unserem ersten Gespräch. Frau T. nahm erst einmal eine abwartende Haltung ein.

Berater: Es ist ja nun das erste Mal dass wir uns alle drei zu einem Beratungsgespräch treffen. Was sind denn Ihre Erwartungen und Hoffnungen?

Hr.T.: Wir wollen unsere Schulden loswerden und Sie sind doch ein Spezialist!

Fr. T.: Wissen Sie, diese Schulden belasten mich so, ich kann kaum noch schlafen!

Berater: Grundsätzlich möchte ich Ihnen sagen, dass ich als Berater Ihnen nur Möglichkeiten und Wege aufzeigen Kann. Die Verantwortung für Ihr Leben und Ihre Finanzen bleiben aber bei Ihnen.

Hr.T.: Das ist uns klar. Wir wünschen uns aber Ihre Hilfe und Unterstützung.

Berater: Wenn Sie beide mir sagen sollten, was Sie sich wünschen, was wir mit der Beratung erreichen sollen, was würden Sie dann sagen?

Fr. T.: Dass Sie uns einen Weg aus unseren Schwierigkeiten zeigen und ich nachts wieder schlafen kann!

Im weiteren Verlauf merkte ich klar, dass beide mit der Tatsache, dass sie Schulden haben, höchst unterschiedlich umgingen. Herr T. war weit gelassener, fast gleichgültig. Frau T. überforderte die Situation und sie litt augenscheinlich.

Die Einnahmen/Ausgabenliste barg allerdings Konfliktstoff. Beim Durchsehen ergab sich, dass die aktuellen Ausgaben die Einnahmen um fast 200,- Euro überstiegen. Herr T. wirkte wieder zunehmend gereizt, als das zur Sprache kam. Mit meiner nächsten Frage versuchte ich ein Abgleiten des Gesprächs in Schuldzuweisungen zu verhindern:

Berater:  Ich kann verstehen, dass es sehr schwierig für sie beide sein muss, mit Ihrem geringen Einkommen auszukommen.  Was, denken Sie, könnten Sie tun, um einen Ausgleich zwischen Einkommen und Ausgaben zu erreichen?

Fr. T.: Wir könnten doch die Versicherungen (Es bestanden mehrere überflüssige Versicherungsverträge) kündigen.

Hr.T.: …und Deinen teuren Handyvertrag.

Zu meiner Überraschung machten Herr und Frau T. nun von sich aus Einsparvorschläge die ich ansonsten selber vorgeschlagen hätte.

Die Suche nach finanziellen Ressourcen war jedoch erfolglos. Nähere Verwandtschaft war entweder bereits verstorben oder selbst mittellos. Eine Entschuldung war also nur möglich, wenn es mir gelingen würde, Spendengelder zu akquirieren. Vorraussetzung für die Vergabe von Spendengeldern aus dem Sozialfond der Stadt Stuttgart ist, dass eine Neuverschuldung möglichst ausgeschlossen werden kann oder zumindest, nach dem Urteil des Beraters, unwahrscheinlich ist. Ein ausgeglichener Haushalt ist hierzu natürlich unabdingbar.

Zum Abschluss dieses Gespräches vereinbarten wir folgendes:

1. In den nächsten zwei Monaten sollte die Familie ein Haushaltsbuch führen und ihr Kaufverhalten sorgfältig überprüfen.
2. Alle überflüssigen Verträge werden gekündigt.
3. Ich führe ein Gespräch mit Sohn Thorsten, da der sich weigert, von seiner Ausbildungsvergütung einen Teil für Unterkunft und Verpflegung abzugeben.
4. Herr und Frau T. sollten beobachten, ob und was sich bei Ihnen bis zu unserem nächsten Gespräch verändert hat und wie sie sich die Zukunft nach Abschluss der Beratung vorstellen.

Ich erklärte ihnen, wovon eine Beantragung von Spendengeldern abhängig ist.

Mein Vorschlag die Familiensituation mit einer Skulptur zu visualisieren wurde leider unisono entschieden abgelehnt.

Während des ganzen Gespräches war ich bemüht, die Grundsätze des „Pacing and Leading“5 zu beachten.

Auf meine Nachfrage erklärten mir Herr und Frau T. dass sie sich nach unserem Gespräch gut und hoffnungsfroh fühlen würden.

Im Nachgang zu diesem Gespräch fasste ich den Entschluss, den weiteren Beratungsprozess erst nach einiger Zeit fortzusetzen.

Die Schulden waren zum großen Teil entstanden, weil die Familie vor kurzem eine neue Wohnung bezogen hatte und, da Geld für neues Mobiliar nicht vorhanden war, Ratenverträge bei Versandhäusern abgeschlossen hatte, die sie nach einiger Zeit nicht mehr bedienen konnte.

Mir war daran gelegen, dass das Ehepaar T. durch den Druck der beginnenden Zwangsvollstreckungen auch mit den Konsequenzen von Verschuldung konfrontiert wird. Ich war gespannt wie z.B. der Besuch eines Gerichtsvollziehers auf die Familie (das System) wirken werden. Vielleicht konnte das zu einer Verhaltensänderung beitragen.

Im Rahmen des nächsten Moduls sprach ich Angela Leierseder6 auf den Fall an. Insbesondere auf die Rolle von Thorsten. Wir fertigten die Skizze eines Genogramms7 (siehe Anlage 1). Wir kamen zu dem Schluss, dass es sich um eine Ablösethematik sowohl in materieller als auch in emotionaler Hinsicht handelt. Zentrale Fragestellung an die Eltern: „Ist es Ihrem Sohn erlaubt in seinem Leben erfolgreicher zu werden?“ An den Sohn: „Ist es Ihnen erlaubt die Tradition der Eltern nicht fortzusetzen?

Als nächstes wandte ich mich dann Sohn Thorsten zu. Ich schlug ihm schriftlich einen Gesprächstermin vor, den er auch wahrnahm.

Gesprächstermin mit Sohn Thorsten (Juli/August 2010)

Thorsten erschien, ohne dass dies vereinbart war, mit seiner 18-jährigen Freundin. Er machte einen verunsicherten Eindruck. Seine Freundin war selbstbewusster, hielt sich aber sehr zurück.

Auch dieses Gespräch hatte ich vorbereitet und Störungen weitgehend ausgeschlossen.

Nach Begrüßung bzw. Vorstellung und kurzem „Small-Talk“ sprach ich den Grund meiner Einladung an:

Berater: Wozu, glauben Sie, sind Sie heute bei mir?

Thorsten: Na wegen meinen Eltern halt. Die haben ja Schulden….

Berater: Wie, glauben Sie geht es Ihren Eltern in der Situation?

Thorsten: Nicht gut, nehm´ ich an, aber ich kann schließlich nicht dafür!

Ich erklärte Ihm dass das Haupthindernis für eine Entschuldung seiner Eltern die Tatsache ist dass die Einnahmen die Ausgaben übersteigen  (was nicht allein daran liegt, dass er sich strikt weigert, seinen Anteil zu übernehmen).  Ich entschloss mich zu einer  Intervention:

Berater; Wie meinen Sie, fühlen sich Ihre Eltern bei der Tatsache, dass Sie, seit sie Ihre Ausbildung angefangen haben, sich weigern, auch einen Beitrag zum gemeinsamen Lebensunterhalt beizusteuern?

Darauf erhielt ich keine Antwort, stattdessen sagte die Freundin:
Freundin: Wir brauchen das Geld, wir wollen ja auch mal ausgehen, er verdient doch nur 600,- Euro.

Thorsten (nach längerem Überlegen): Na ja, Sie haben schon irgendwie recht. 100 Euro könnt ich vielleicht ja doch. Wenn das was hilft ..

Am Ende kamen wir doch überein, dass er zukünftig 100,- Euro zuhause abgeben würde. Dies wurde auch schriftlich fixiert. Des Weiteren habe ich für seine Schulden mit dem Gläubiger eine Ratenvereinbarung getroffen, die er mit 50,- Euro monatlich bedienen sollte.

Alles in allem hatte ich den Eindruck, dass Thorsten unseren Termin recht nachdenklich verließ. Seine Freundin dagegen ließ sich nichts anmerken und war sehr still geblieben.

In den folgenden Monaten beschränkte sich der Kontakt mit Familie T. auf einen Termin Im Dezember 2010, diesmal nur mit Herrn T.. Hier beschränkte ich mich auf die Prüfung des Haushaltsplanes, der immer noch nicht den Vorgaben entsprach. Die Ausgaben waren zwar reduziert, die Telefonkosten waren jedoch immer noch weit überhöht. Herr T. schob die Verantwortung hierfür wieder seiner Frau zu.

Trotzdem hatte der zwischenzeitlich stattgefundene Besuch des Gerichtsvollziehers und die immer schärfer formulierten Anschreiben der Gläubiger einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Die zur Schau gestellte Lässigkeit des Herrn T. hatte merklich nachgelassen.

Frau T. rief eines Nachmittags bei mir an und beklagte sich bitter über die Art, wie die Gläubiger mit ihr “umgehen“  würden:  „Ständig diese bösen Briefe, und diese Drohungen mit Pfändung und Gerichtsvollzieher und was weiß ich nicht alles!“

Ich gab ihr recht und versuchte es mit Fragen wie: „Fühlen nur Sie sich von den Gläubigern schlecht behandelt oder auch Ihr Mann und Ihr Sohn?  Was löst das in Ihnen aus? Woran merken Sie dass Sie überfordert sind? Gibt es auch  Momente in denen Sie nicht an Ihre Schulden denken und entspannt sind?“

Sie beruhigte sich daraufhin langsam und ich musste ihr zusichern, mich auch weiterhin um die Familie zu kümmern.

Dieser Anruf brachte mich dazu, darüber nachzudenken, wie ich, strategisch gesehen, weiter vorgehen sollte. Einerseits stellte sich die Frage, ob meine bisherigen Schritte schon einen Beitrag zu einer nachhaltigen Veränderung in der Familie beitragen können. Es war schließlich noch nicht allzu viel Zeit vergangen, um dies wirklich beurteilen zu können. Andererseits war zu diesem Zeitpunkt, aus rein schuldnerberaterischer Sicht, eine schnelle Regulierung noch möglich. Wenn noch mehr Zeit verginge, würde, durch Zinsen und stetig steigende Kosten, eine Entschuldung nicht mehr so leicht möglich sein.

Nach sorgfältiger Überlegung entschied ich mich für die pragmatische Lösung. Also begann ich, Anfang des Jahres 2011, den Beratungsprozess langsam zum Abschluss zu bringen. Zuerst führte ich ein Gespräch mit der zuständigen Kollegin im Entschuldungsfond beim Sozialamt der Stadt Stuttgart. Ich schilderte den Fall kurz und fragte an, ob eventuell eine Spende in diesem Fall beantragt werden könne. Ich erklärte, dass ich die Beantragung in jedem Fall von einem weiteren Termin mit den Eheleuten T. und vom Erreichen eines ausgeglichenen Haushalts abhängig machen werde.

Vorbehaltlich eines erfolgreichen Gespräches bekam ich die Zusage für beide je einen Betrag von EUR 1.600,- beantragen zu können.

Daraufhin schrieb ich eine Einladung zu einem Gesprächstermin am 10.02.2011 An Ehepaar T. und Sohn. Bei der telefonischen Bestätigung des Termins erzählte mir  Herr T., dass Thorsten im Januar 2011 aus der elterlichen Wohnung ausgezogen war und nun mit seiner Freundin zusammenleben würde.

Über diese Entwicklung  war ich durchaus erfreut. Thorsten war so dem Einflussbereich der Eltern entkommen und bekam nun erstmals eine Chance, sich altersgerecht vom Elternhaus zu lösen und selber einen eigenen Weg zu finden, hoffentlich ohne die Muster seiner Eltern zu kopieren.8

Dritter Gesprächstermin mit Ehepaar T.

Wie schon in den vorangegangenen Gesprächen sorgte ich im Vorfeld für einen störungsfreien Ablauf. Ich druckte je eine aktuelle Schuldenübersicht aus. Aktueller Stand: EUR 3.759,28 für Wolfgang, EUR 3.497,55 für Ute T.

Zuerst gingen wir zusammen die aktuelle Einnahmen/Ausgabenliste durch. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass tatsächlich eine Auseinandersetzung mit der Problematik erfolgt ist. Die Ausgaben waren auf allen Ebenen drastisch gekürzt. Z.B. konnten, durch Wechsel des Anbieters, die Ausgaben für den Bereich Telefon/Internet/Fernsehen auf 20,- Euro monatlich beschränkt werden. Alles in allem ergab sich ein leichtes monatliches Plus, nach Abzug aller Kosten, von 297,17 Euro. Ich war voll des Lobes ob dieser Entwicklung. Der Auszug des Sohnes Thorsten brachte außerdem mehr Stabilität in das System, da das Job Center nun einen höheren Betrag auszahlte.

Berater:  Was genau war das Schwierigste um zu diesem Ergebnis zu kommen?

Herr T.: Für mich war das Schwierigste, für mich zu entscheiden, auf was ich am ehesten verzichten könnte.

Frau T.: Mir ist es besonders schwergefallen, immer einen Einkaufszettel zu machen, und alles vorher auszurechnen und dann auch nicht mehr zu kaufen als draufsteht.

Herr T.: Wir wussten ja auch nicht, dass es dieses Flatrate-Angebot gibt und dass das auch so einfach geht, mit dem Wechsel und so…

Auf die Frage, wie sie empfinden dass Sohn Thorsten ausgezogen ist:

Herr T.: Es ist jetzt halt viel ruhiger, es gibt viel weniger Streit.

Frau T.: Es ist ja vielleicht doch besser so. Er macht ja sowieso was er will…Aber er ist ja nicht weit weg gezogen.

Berater: Sie können sich doch sicher noch an meine Frage vom letzten Mal erinnern, ob sich was verändert hat bei Ihnen?

Frau T: Jetzt, wo wir immer alles vorher ausrechnen, was wir ausgeben, habe ich nicht mehr soviel Angst, wegen Schulden und so …

Herr T.: Was passiert denn jetzt weiter mit den Schulden. Wir haben uns doch an alles gehalten, was Sie gesagt haben.

Berater:  Ja ich habe die Zusage dass wir, für den Fall dass alle Gläubiger zustimmen Spendengelder bekommen.

Ich erklärte ihnen nun mein weiteres Vorgehen. Ich würde nun allen Gläubigern einen Vergleichsvorschlag machen und die zugesagten 1.600,- Euro an alle anteilmäßig anbieten. Die Quote läge bei 42%  bzw.  45% der Forderungssumme.

Berater: So wie es aussieht, können wir hoffentlich die Schuldnerberatung in nächsten Wochen abschließen. Sollte alle Gläubiger     zustimmen und ich bin da recht zuversichtlich werden Sie in Kürze schuldenfrei sein. Es war jetzt für Sie auch ein langer Weg und hat Sie mit Sicherheit viel an Arbeit gekostet. Bitte bedenken Sie für die Zukunft, dass ich nur einmalig mit Geld helfen kann.

Herr T.: Das ist klar. Es wird aber auch sicher nicht nötig werden. Wir haben das jetzt im Griff.

Frau T.: Ja, auf jeden Fall!

Berater: Gut, dann überlasse ich Sie wieder Ihrer eigenen Verantwortung. Ich werde mich telefonisch bei Ihnen melden, wenn das Ergebnis feststeht. Wir müssen uns dann zur Unterschrift des Spendenantrags noch einmal treffen.

Damit endete das Gespräch.

Fazit und Selbstreflexion

Ute T.: 2 von 3 Gläubigern haben der Schuldenbereinigung zugestimmt. Kopf- und Summenmehrheit sind bereits erreicht. Die Zustimmung des letzten Gläubigers kann somit ersetzt werden.

Wolfgang T.: 3 von 4 Gläubigern haben der Schuldenbereinigung zugestimmt. Kopf- und Summenmehrheit sind bereits erreicht. Die Zustimmung des letzten Gläubigers kann somit ersetzt werden.

Die Schuldnerberatung kann auf der finanziellen Seite als erfolgreich abgeschlossen angesehen werden.

Alles in allem sehe ich den Beratungsverlauf als durchaus erfolgreich. Obwohl Anfangs ein großes Misstrauen, besonders von Seiten des Herrn T., herrschte, ist es gelungen ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Ebenso positiv sehe ich den Auszug des Sohnes Thorsten, der so aus dem Einflussbereich seiner Eltern ist und sich aus eigener Kraft ein eigenes Leben aufbauen kann.

Für mich selber zeigt besonders dieser Fall, auch wegen der Zeitspanne, exemplarisch den Lern- und Umdenkprozess der seit unserem ersten Seminar stattgefunden hat.  Auf der anderen Seite zeigt der Fall auch die Grenzen des systemischen Arbeitens in der Schuldnerberatung.

Ob die Verhaltensänderung in finanziellen Dingen beim Ehepaar T. wirklich nachhaltig ist, lässt sich wohl erst in einiger Zeit feststellen. Gerade die Äußerung des Herrn T. (siehe Seite 8, oben) Zitat „Wir haben uns doch an alles gehalten, was Sie gesagt haben“ hat mich hier stutzig gemacht. Dieser Satz legt die Vermutung nahe, dass es völlig offen ist, ob die Familie den Haushaltsplan in dieser Strenge weiterführen wird und dass sie nur so gut mitgearbeitet haben, weil die Schuldenfreiheit bereits zum Greifen nah war. Natürlich besteht die Gefahr, dass sie jetzt wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Allerdings ist eine längere Betreuung nicht Auftrag des Trägers und somit nicht leistbar.

Der unterschwellige Konflikt zwischen den Eheleuten ist natürlich weiterhin nicht gelöst. Hier wäre eine Paartherapie aus meiner Sicht sicher hilfreich.

Speziell Menschen, die aufgrund Ihrer fehlenden Ausbildung und geringer Bildungsnähe, gezwungen sind, dauerhaft am Existenzminimum, sprich Hartz VI zu leben, sind in ihren Gestaltungsmöglichkeiten enorm eingeschränkt. So ist es, nach meiner täglichen Erfahrung, fast unmöglich, auf Dauer von Hartz IV zu leben, ohne sich zu verschulden.

Diese Tatsache lässt manchmal wenig Raum für systemische Ansätze und erfordert oft ein direktiveres Eingreifen, als es der systemischen Denkweise entspricht. Die Arbeit in der Schuldnerberatung muss, angesichts der Vorgaben des Trägers, den Erwartungen der Klienten und der oftmals vorwiegend juristisch/kaufmännischen Rahmenbedingungen der Tätigkeit an und für sich, pragmatisch sein;  für die Anwendung mancher systemischen Konzepte fehlt oft die Zeit.

Abschließend, ist noch zu sagen, hat sich die Weiterbildung, auch im Kontext der täglichen Arbeit, bewährt und mich zu der Überzeugung gebracht, dass der jetzt eingeschlagene Weg richtig ist und mich beruflich, wie privat, bereichert hat.

„Systemische Handlungsmodelle in der Schuldnerberatung“  2. Fallbericht

Der zweite Fallbericht ist ein Beispiel dafür, dass eine systemische Herangehensweise in der Schuldnerberatung praktikabel ist und dadurch Ressourcen aktiviert werden können, auf die man, bei einer Fixierung auf die herkömmlichen rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen, nicht ohne weiteres kommt.

Zu Frau Silvia Fleißig

Frau Fleißig ist 40 Jahre alt und gesund. Sie ist geschieden und alleinerziehende Mutter von zwei Jungen im Alter von 6 und 15 Jahren, Robin und Philipp. Das ältere der Kinder hat ADS und bedarf großer erzieherischer Aufmerksamkeit. Mit dem Vater von Robin war sie 5 Jahre verheiratet, von dem Vater von Philipp hat sie sich mittlerweile, nach 5 Jahren, auch getrennt.  Sie kommt aus gutbürgerlichen Verhältnissen und hat noch zwei ältere Schwestern. Beide Elternteile leben noch und unterstützen sie nach Kräften. Die Großeltern sind beide verstorben. Ursprünglich kam die Familie aus der Gegend von Würzburg, lebt aber bereits seit den Sechzigern im Raum Stuttgart.

Frau Fleißig hat 1986 den Hauptschulabschluss gemacht, danach zuerst eine Ausbildung zur Zahnarthelferin begonnen, diese jedoch nach einem Jahr abgebrochen. Die Ausbildung zur Bürokauffrau, die Sie 1988 begann, hat sie ebenfalls, nach zwei Jahren, abgebrochen. In der Folgezeit hatte sie einige Anstellungen im kaufmännischen Bereich, nach der Geburt ihres ersten Kindes, in Teilzeit. Seit 2002 wurde sie immer wieder arbeitslos und bezog bald Sozialhilfe bzw. Arbeitslosengeld II (Hartz IV).

Verlauf

Frau F. war vom Job Center im sog. 1-Euro-Job auf einen Einzelarbeitsplatz im Verwaltungsbereich unseres Sozialunternehmens zugewiesen worden. Im Oktober 2010 kam Frau Fleißig das erste Mal auf mich zu.  Wie sie mir erklärte, hatte sie noch Schulden in Resthöhe von 3.750,- Euro aus einem Darlehen, das sie in der Ehe gesamtschuldnerisch aufgenommen hat.  Um Vollstreckungsmaßnahmen zu entgehen, tilgt sie seit geraumer Zeit die Schuld in Kleinraten von monatlich 25,- Euro.

Wir vereinbarten einen Beratungstermin für ca. 14 Tage später. Frau Fleißig sollte in der Zwischenzeit den aktuellen Forderungsstand ermitteln.

Beratungsgespräch

Wir nahmen, nach Begrüßung und ein paar anerkennenden Worten über das schnelle Ermitteln des Forderungsstandes, in der „Beratungsecke“ Platz. Ich nahm Rapport9 auf und hörte konzentriert zu, als sie mir schilderte, wie es  dazu kam, dass der Kredit bis heute noch nicht vollständig abgezahlt war. Ich spiegelte10 ihre Antworten und bemerkte, dass Frau Fleißig zunehmend entspannte und einen kooperativen, offenen Eindruck machte. Mir erschien der Zeitpunkt richtig für Ziel- und Auftragsklärung:

Ich: Wie, denken Sie, könnten wir in dieser Sache gut zusammenarbeiten?

Sie: Es ist mir sehr daran gelegen, diese Sache endlich aus der Welt zu schaffen. Monat für Monat überweise ich diese 25,- Euro, aber ein Ende kommt nicht in Sicht!

Ich: Das kann ich gut verstehen. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir zusammen eine machbare Lösung finden können. Wir sind uns also einig darin, dass wir erst einmal Ihre persönliche und familiäre Situation abklären und gemeinsam nach „geheimen Reserven“ (Ressourcen) suchen?

Sie: Na das hört sich ja geheimnisvoll an!  Was soll ich tun?

Ich: Mein Vorschlag wäre, dass Sie, wenn Sie wollen, mit Hilfe der Figuren und Bildern, die ich hier habe, mir Ihre Familiensituation, darstellen, sozusagen aufzeichnen. Damit werden die Dinge manchmal klarer….

Frau Fleißig betrachtete, leicht belustigt, meine „Figurenkiste“. Erklärte sich dann aber doch einverstanden. Ich legte die Lebenslinie und Frau Fleißig stellte, nach anfänglichem Zögern, die erste Figur auf.

Sie: Hier bin erst einmal ich!

Nach kurzer Zeit stellte sie, mit zunehmendem Enthusiasmus, den engeren Familienkreis auf. Mein Eingreifen beschränkte sich auf gelegentliches Nachfragen, welche Personen dargestellt sind und ob sie, ihrer Meinung nach, richtig einander zugewandt seien.

Sie:  Hier, meine Familie, die stehen mir alle sehr nah und haben mich immer sehr unterstützt! In allen Lebenslagen, sozusagen. Selbst wenn es mal nicht so gut lief! Und es lief oft nicht gut!!

Ich: Das hört sich nach viel Rückhalt an, den Sie erfahren.

Die „Jetzt“- Skulptur war mittlerweile aufgestellt. Ich deutete auf die dünneren Fäden:

Ich: Wenn Sie den innersten Teil Ihrer Familie hervorheben, welche Personen wären das dann?

Sie nahm den schwarzen Faden und legte sie um die Figuren die sie, ihre Kinder und beide Eltern darstellten (siehe Foto 092 und 093). Einen weiteren, weißen Faden um die gesamte Kernfamilie.

Ich: Wollen Sie wissen, was mir bis jetzt auffällt?

Sie: Ja! Sagen Sie!

Ich: Bisher haben Sie keinen Ihrer Expartner oder gar einen aktuellen Partner dazugestellt.

Sie überlegte eine Weile.

Sie: Ach Männer!! Keinen Bedarf im Moment, wirklich nicht!

Ich: Und Ihre Expartner?  Wo würden denn die stehen?

Sie greift spontan zu einem, in der Kiste befindlichen Plastikdinosaurier und stellt ihn weit weg von der Familie und auch den Kindern.

Sie: Das ist der Vater von Robin. Er macht mir nur Ärger. Er will das gemeinsame Sorgerecht erzwingen und dafür ist ihm jedes Mittel recht…..

Den Vater von Philipp setzt sie daraufhin nach hinten, kurz vor dem Saurier.

Ich: Wenn Sie sich vorstellen, das Schuldenproblem wäre gelöst, wie würden Sie sich vorstellen, dass die Lage in, sagen wir, einem Jahr aussehen würde?

Frau Fleißig stellte die Figuren zügig, in ganz ähnlicher Formation auf. Auffallend war, dass nun etwas mehr Luft zwischen den Personen war. Sie standen nicht mehr so dicht beieinander. Zusätzlich suchte sie ein Bild der aufgehenden Sonne aus der Kiste und legte diese nach vor die Gruppe (siehe Fotos). Alle Figuren blickten nun nach vorn.

Ich:  Bitte schauen Sie sich das Bild nun mal aus verschieden Blickwinkeln an.

Sie tat wie geheißen und war augenscheinlich zufrieden.

Ich: Und stimmt alles? Was fühlen sie, wenn Sie das ansehen?

Sie: Es ist o.k.! Ich bin nicht allein! Ich finde es gut.

Nach einigen Minuten, in denen sie ihr Werk betrachtete, fragte ich sie, wo ein potentieller neuer Partner stehen würde. Daraufhin ergriff sie das Figürchen eines Schafes und stellte dieses hinter die Familie.

Sie: Der müsste hinten anstehen (lacht) …. und sich Mühe geben ….

Ich: Möchten Sie, dass ich auch meinen Eindruck wiedergebe?

Sie: Ja

Ich: Die „Jetzt“-Situation ist ein bisschen eng und auch irgendwie nach außen isoliert. Kann das sein?

Sie: (überlegt) Naja, schon auch irgendwie. Aber die Nähe ist doch wichtiger im Moment.

Nach der Aufnahme der Fotos, für die ich mir ihre ausdrückliche Erlaubnis einholte, bat ich sie, die Skulptur wieder wegzuräumen.

Ich: Wie fühlen Sie sich jetzt. Sagen wir auf einer Skala von eins bis zehn?

Sie: Eindeutig eine zehn (lacht)….

Die Stimmung war sehr entspannt. Wir setzten uns wieder in die Besprechungsecke. Die Skulpturarbeit hatte mich auf den naheliegenden Gedanken gebracht, dass die Familie der Schlüssel zur Lösung war. Vielleicht wäre es machbar, von ihren Angehörigen ein „Darlehen“ über den Betrag von 1.100,- oder besser 1.200,- Euro, dies entspräche einer Quote von rund 30 % des Schuldbetrages, für einen Einmalzahlungsvergleich zu bekommen. Also machte ich ihr den Vorschlag, sich doch einmal mit den Familienmitgliedern zusammenzusetzen und diese Möglichkeit anzusprechen.

Sie:  Meinen Sie wirklich? Meiner Familie habe ich von der Restschuld bisher gar nichts gesagt. Die haben mir schon bei so vielen Dingen geholfen. Und jetzt auch noch um Geld bitten?

Ich: Was meinen Sie denn, würde Ihnen die Familie das übel nehmen?

Sie: (nachdenklich) Nein, wahrscheinlich nicht ….

Nach Erledigung der üblichen Formalitäten, also Bevollmächtigung, anlegen des Klientenblattes usw. beendete ich den Termin. Ich bat sie sich telefonisch zu melden, wenn sie mit ihrer Familie geredet habe.

Erfreulicherweise erhielt ich bereits nach 8 Tagen ihren Anruf. Sie teile mir mit, dass die Eltern und Geschwister zusammengelegt hätten und ihr den Betrag von 1.200,- Euro zur Verfügung stellen könnten.

Daraufhin verfasste ich ein Angebotsschreiben an die gegnerischen Anwälte. Hier ging ich ausführlich auf die prekäre finanzielle Lage der alleinstehenden Mutter ein. Ich hob hervor, dass Frau Fleißig über kein pfändbares Einkommen verfügte und dass ihr nur dieses zweckgebundene Darlehen aus dem Verwandtenkreis zur Verfügung stünden.

Weitere 14 Tage später erhielt ich die Antwort der Anwaltskanzlei. Bei Zahlung eines Vergleichsbetrages von EUR 1.230,- Euro war man bereit, auf die Restforderung zu verzichten, dies entsprach einer Quote von ca. 33 %.

Ich griff zum Telefon und überbrachte Frau Fleißig die gute Nachricht. Sie war hocherfreut. Danach sandte ich Ihr per Post die Vergleichszusage zu, damit sie die Überweisung vornehmen konnte.

Wenig später erhielt ich die „Erledigt-Meldung“ der Anwaltskanzlei. Frau Fleißig kam noch einmal in meinem Büro vorbei. Ich übergab ihr das Schreiben, sie bedankte sich herzlich für die gute Zusammenarbeit. Die Beratung war somit beendet.

Fazit und Selbstreflexion

Dieser Fall ist ein, viel zu seltenes, Beispiel für einen relativ problemlosen Beratungsprozess. Das starke Helfersystem der Klientin machte es mir, als Berater, einfach, einen Lösungsweg zu finden. Nach meiner Empfindung hat die Skulpturarbeit der Klientin sehr geholfen, die Scheu ihre Verwandten um Hilfe zu bitten, zu überwinden.

Stuttgart, im März 2011

1 Literaturhinweis: Schlippe/Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, 10. Auflage
2 beschwichtigen/anklagen
3 hier: lineares/kausales Denken im Gegensatz zum systemisch/konstruktivistischem Denken
4 Fachbegriff für „Körperhaltung des Klienten einnehmen“, spiegeln
5 hier: „Sich angleichen und führen“
6 eine der beiden Trainerinnen/Referentinnen
7 Genogramm ist die Bezeichnung für eine piktografische Darstellung, die in der systemischen Familientherapie verwendet wird, um Familienbeziehungen, wiederkehrende Konstellationen und medizinische Vorgeschichte darzustellen. Dabei geht es inhaltlich weit über einen Familienstammbaum hinaus. Mit einem Genogramm sollen Verhaltensmuster, beziehungsstörende psychologische Faktoren und sich innerhalb einer Familie wiederholende Verhaltensweisen visualisiert und anschließend analysiert werden.
8 An dieser Stelle tritt klar hervor, dass man als Berater, trotz allen Bemühens, immer wieder Gefahr läuft, eigene Vorstellungen und Erwartungen in den Beratungsprozess einzubringen. Im rein systemischen Sinne bin ich hier „zu nahe ins System“ geraten.
9 Fachbegriff für „Körperhaltung des Klienten einnehmen“
10 Auch „Pacing“ (sich angleichen), Annehmen der Körperhaltung des Klienten (mentales, emotionales „Einschwingen“ auf den anderen Menschen).

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