17. November 2020

Julia Schlembach, Diakonisches Werk der Evangelischen Landeskirche in Baden e. V.

Im Laufe des Jahres 2018 waren nach Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (BAGW) ca. 678.000 Menschen in Deutschland wohnungslos – das heißt, dass sie nicht über mietvertraglich gesicherten Wohnraum verfügen. „In den letzten Jahren haben sich die Gründe für einen Wohnungsverlust kaum verändert. In der Hälfte der dokumentierten Fälle haben die Menschen die Wohnung nach Kündigung durch den Vermieter (30 %) oder im Verlauf des Prozesses von Räumungsklage (5 %) und Zwangsräumung (16 %) verloren. In 66 % der Fälle erfolgte die Zwangsräumung aufgrund von Mietschulden, in 7 % wegen Eigenbedarfs und in 27,0 % wegen anderer Probleme.“ (BAGW 2020)

Das effektivste Mittel gegen Wohnungslosigkeit ist also neben einer sozialen Wohnungspolitik, die allen Menschen ein gutes und sicheres Wohnen ermöglicht, die Verhinderung des Wohnungsverlusts.

Primärschulden haben in der Schuldnerberatung absolute Priorität. Auch wenn eine Mietschuldenübernahme nicht in Ihren direkten Zuständigkeitsbereich fällt, ist das Wissen um das Verfahren aber dennoch von besonderer Bedeutung, um eine Rechtsverwirklichung für Ihre Klient*innen sicherzustellen.

Denn eins vorab: Wenn der Verlust der Wohnung droht haben die Ämter nahezu keinen Spielraum Mietrückstände nicht zu übernehmen. Egal, ob der betroffene Haushalt im SGB II- oder -XII-Bezug ist oder nicht.

Auch aus haushaltspolitischer Sicht ist für die Kommunen die Unterbringung von woh­nungslosen Menschen erheblich kostenaufwendiger als die vorbeugende Wohn­raumsicherung. Je früher Hilfe organisiert wird, desto geringer sind die persönli­chen und finanziellen Folgekosten für die Betroffenen und die Kommune bzw. die öffentlichen Leistungsträger.

In vielen Kommunen gibt es sogenannte Fachstellen Wohnungssicherung. Teilweise übernehmen die Ämter diese Aufgabe allein, teilweise in Kooperation mit Freien Trägern der Wohlfahrtspflege oder sie delegieren diese Aufgabe insgesamt an die freie Wohlfahrtspflege. Dennoch gibt es in Baden-Württemberg leider ‚weiße Flecken‘ und Fachstellenkonzepte sind nicht flächendeckend ausgebaut.

Im Rahmen der Erstellung eines landesweiten Fachkonzepts für die Wohnungsnotfallhilfe gibt es für Baden-Württemberg ein geeintes Papier der Landesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege, das genau diese weißen Flecken im Land zu schließen versucht und Empfehlungen für den Aufbau solcher Fachstellen gibt.

1 Phasen des (drohenden) Wohnungsverlusts

Der drohende Wohnungsverlust verläuft in Phasen:

  • Vor- bzw. außergerichtliche Phase
  • Gerichtliche Phase
  • Vollstreckungsphase

Wie bei allen präventiven Maßnahmen gilt: Je früher die Hilfen einsetzen, desto größer sind die Erfolgsaussichten. Ein Wohnungserhalt ist allerdings in allen Phasen möglich.

 2 Ein kurzer – nicht vollständiger! – Exkurs ins Mietrecht des BGB:

Bei Zahlungsverzug ist die/ der Vermieter*in berechtigt, fristlos zu kündigen,

  • wenn sich Mieter*innen an zwei aufeinanderfolgenden Terminen mit mehr als einer Monatsmiete in Verzug befinden (vgl. § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchstabe a BGB in Verbindung mit § 569 Abs. 3 Nr. 1 BGB)
  • oder wenn sich Mieter*innen über mehr als zwei Mietzahlungstermine mit einem Zah­lungsbetrag in Verzug befindet, der die Höhe von zwei Monatsmieten er­reicht hat (vgl. § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchstabe b BGB).
  • Ein wichtiger Grund im Sinne des § 543 Absatz 1 BGB liegt ferner vor, wenn die/ der Mieter*in mit einer Sicherheitsleistung nach § 551 BGB (Mietkaution) in Höhe eines Betrages im Verzug ist, der der zweifachen Monatsmiete entspricht. Die als Pauschale oder als Vorauszahlung ausgewiesenen Betriebskosten sind bei der Berechnung der Monatsmiete nach Satz 1 nicht zu berücksichtigen (§ 569 Abs. 2a BGB).

Die/ der Vermieter*in kann unter Umstän­den eine ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses wegen schuldhaf­tem nicht unerheblichen Verstoßes gegen vertragliche Pflichten aussprechen (vgl. § 573 Abs. 2 Ziffer 1 BGB). Häufig sprechen Vermieter*innen zur Absicherung eines etwaigen Rechtsstreits neben der außerordentlichen fristlosen gleichzeitig hilfsweise die ordentliche Kündigung aus.

Nach § 543 Abs. 2 Satz 2 BGB ist eine fristlose Kündigung ausgeschlossen, wenn die Mietrückstände vor Zugang der Kündigungserklärung vollständig aus­geglichen wurden.

Sie wird darüber hinaus gemäß § 569 Abs. 3 Ziffer 2 Satz 1 BGB durch Nach­zahlung der Miete nachträglich unwirksam. Voraussetzungen hierfür sind, dass

  • bis zum Ablauf von zwei Monaten nach Zustellung der Räumungsklage
  • sämtliche Mietrückstände nebst der laufenden Nutzungsentschädigung ab Zugang der fristlosen Kündigung (vgl. § 546a Abs. 1 BGB) an die/ den Vermieter*in gezahlt werden
  • oder sich eine öffentliche Stelle zur Übernahme der Zahlung verpflichtet.

Zu beachten ist, dass durch die Nachzahlung der Miete nur die außerordentliche fristlose Kündigung geheilt werden kann, nicht aber die ordentliche Kündigung. In diesem Falle müsste mit der/ dem Vermieter*in verhandelt werden, dass er bei Be­gleichung der Mietrückstände auch die ordentliche Kündigung zurücknimmt.

Allerdings kann die Kündigung durch Nachzahlung der offenen Mieten nur einmal innerhalb von zwei Jahren geheilt werden (vgl. § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 BGB). Wurde innerhalb der letzten zwei Jahre bereits eine Kündigung aus demselben Grund ausgesprochen, so bleibt die fristlose Kündigung trotz Nach­zahlung wirksam.

Folgende Formvorschriften sind bei einer Kündigung des Mietverhältnisses zwingend:

  • grundsätzlich Schriftform und eigen­händige Unterschrift (§ 568 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 126 BGB)
  • Benennung des Grunds für die Kündigung (§ 569 Abs. 4 BGB bzw. § 573 Abs. 3 BGB)
  • ggf. Beachtung einschlägiger Kündigungsfristen (§§ 573c, 573d BGB)

3 Mietschuldenübernahme nach § 22 Abs. 8 SGB II oder § 36 SGB XII

Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. hat 2015 und 2020 Empfehlungen zur Übernahme von Mietschulden bzw. zur Umsetzung von Maßnahmen zum Wohnraumerhalt veröffentlicht, deren Grundzüge ich im Folgenden zusammenfasse:

Nach dem Wortlaut von § 22 Abs. 8 SGB II bzw. § 36 Abs. 1 SGB XII ist eine Schuldenübernahme möglich (‚Kann-Regelung‘), soweit sie zur Sicherung der Unterkunft gerechtfertigt ist.

Liegt drohende Wohnungslosigkeit vor, ist gemäß § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II bzw. § 36 Abs. 1 Satz 2 SGB XII regelmäßig keine andere Entscheidung als eine Schul­denübernahme möglich (‚Soll-Regelung‘).

Auf der Tatbestandsseite bedarf es des drohenden Verlustes der bewohnten, kostenangemessenen Wohnung bei fehlender Möglichkeit, ebenfalls angemessenen Ersatzwohn­raum zu erhalten. Die Möglichkeit zur Unterbringung in einer Not- oder Obdachlosenunterkunft lässt das Tatbestandsmerkmal der drohenden Wohnungslosigkeit nicht entfal­len.

Für die Feststellung, ob kostenangemessener Ersatzwohnraum zur Verfügung steht, müssen die zuständigen Leistungsträger prüfen, ob auf dem Wohnungsmarkt grundsätzlich verfügbarer Wohnraum auch für die betrof­fenen Personen konkret anmietbar ist. Eine fehlende Mietschuldenfreiheitsbe­scheinigung der/ des Vorvermieter*in oder ein negativer SCHUFA-Eintrag stellen Hemmnisse für den Zugang zum Wohnungsmarkt dar, die es zu berücksichtigen gilt.

3.1 Mietschuldenübernahme nach den Rechtsvorschriften des SGB II: Bedarfe für Unterkunft und Heizung

Für den Rechtskreis SGB II ist in § 22 Abs. 8 SGB II geregelt, dass Mietschulden übernommen werden können, sofern Arbeitslosengeld II für den Bedarf für Unterkunft und Heizung erbracht wird und die Schuldenübernahme zur Siche­rung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerecht­fertigt ist (§ 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II). Sie sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht (§ 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II).

Leistungsberechtigung:

Leistungen für die Schuldenübernahme nach § 22 Abs. 8 SGB II können nur an Personen gewährt werden, die bei Antragstellung hilfebedürftig im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II sind und Anspruch auf Arbeitslosengeld II für den Bedarf für Unterkunft und Heizung haben.

Vorrangig einzusetzendes Vermögen:

Der Umfang der Schuldenübernahme richtet sich danach, was gerechtfertigt und zur Abwendung der Wohnungslosigkeit notwendig ist. Eine Schulden­übernahme kommt erst in Betracht, wenn die Rückstände durch den Einsatz eigenen verfügbaren Vermögens der Hilfesuchenden nicht gedeckt werden können.

Darlehensgewährung und Rückzahlungsverpflichtung:

Die Übernahme von Schulden zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage soll gemäß § 22 Abs. 8 Satz 4 SGB II als Darlehen erfolgen.

Aufgrund der herausragenden Bedeutung, die Mietschulden bei der Prävention von Wohnungsnotfällen haben, empfiehlt der Deutsche Verein die Möglichkeit einer Mietschuldenübernahme als Beihilfe auch für Beziehende von SGB II-Leistungen gesetzlich einzuräumen. Im Fall der darlehensweisen Mietschuldenübernahme steht den Betroffenen aufgrund der zwingenden Aufrechnung über einen Zeitraum von mehreren Monaten, ggf. Jah­ren, nur der gekürzte Regelbedarf zur Verfügung. Dies lindert die Überschuldungs­situation nicht, sondern verschärft sie und führt nicht zu einer nachhaltigen Ver­besserung der Wohn- und Gesamtsituation.

3.2 Mietschuldenübernahme nach den Rechtsvorschriften des SGB XII: Sonstige Hilfen zur Sicherung der Unterkunft

§ 36 Abs. 1 SGB XII enthält eine ähnliche Regelung: Hiernach können Schulden nur übernommen werden, wenn dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist (§ 36 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Sie sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht (§ 36 Abs. 1 Satz 2 SGB XII).

Leistungsberechtigung:

Können die Schulden nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbe­sondere aus Einkommen und Vermögen, beglichen werden und ist deren Über­nahme zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt, können Hilfen zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behe­bung einer vergleichbaren Notlage nach § 36 Abs. 1 SGB XII gewährt werden. Die Leistungsberechtigung setzt Hilfebedürftigkeit voraus. Der Hilfesuchende muss jedoch nicht aktuell im laufenden SGB XII-Leistungsbezug stehen bzw. einen Anspruch auf laufende Leistungen haben.

Grundsätzlich haben Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die dem Leis­tungsausschluss nach § 23 SGB XII unterliegen, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung der Unterkunft. Im Einzelfall und unter Berücksichtigung be­sonderer Umstände kommt jedoch eine temporäre Leistungsgewährung in Be­tracht.

Darüber hinaus können erwerbsfähigen Personen und ihren Angehörigen sonstige Hilfen zur Sicherung der Unterkunft gewährt werden, auch dann, wenn sie dem Grunde nach leistungsberechtigt, aber aufgrund von Einkommen oder Vermögen nicht hilfebedürftig im Sinne des § 9 SGB II sind (vgl. § 21 Satz 2 SGB XII).

Vorrangig einzusetzendes Vermögen:

Eine dem § 22 Abs. 8 Satz 3 SGB II vergleichbare Regelung ist im SGB XII nicht vorhanden, aber wie bereits dargestellt müssen die Selbsthilfekräfte ausgeschöpft sein.

Darlehensgewährung und Rückzahlungsverpflichtung:

Im Rechtskreis SGB XII steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Sozialhilfeträ­gers, ob Hilfen zur Sicherung der Unterkunft bzw. zur Behebung einer ver­gleichbaren Notlage als Darlehen oder als nicht rückzahlbare Beihilfe erbracht werden. Die Entscheidung ist unter Berücksichtigung und Abwägung aller Um­stände des Einzelfalles zu treffen.

Wird eine lediglich darlehensweise Gewährung in Betracht gezogen, so sind die Wirkungen des Darlehens auf die Zukunftsperspektive der Betroffenen zu be­rücksichtigen. Eine Darlehensvergabe ist in der Regel nur bei einer realistischen Rückzahlungsperspektive ermessensgerecht. Das zentrale Ziel der Sozialhilfe, von ihr unabhängig leben zu können (§ 1 Satz 2 SGB XII), darf durch die Darle­hensgewährung nicht gefährdet sein.

4 Hilfreiche Broschüren für die Beratung

Für die Beratung empfehle ich Ihnen zwei Broschüren, die kostenlos online abrufbar sind:

Die Diakonie Bayern hat einen Handlungsleitfaden für Beratende erstellt. Hier werden die verschiedenen Phasen des Kündigungsprozesses bis zur Räumungsklage und Räumung beschrieben und Interventionsmöglichkeiten aufgezeigt.

Die Diakonie Hamburg hat eine Broschüre in einfacher Sprache zu Thema erstellt. Diese Broschüre soll die Prävention von Wohnungsverlusten unterstützen und richtet sich in einfacher Sprache vor allem an Menschen, die Schwierigkeiten mit Ämtern, bürokratischen Vorgängen oder der deutschen Sprache haben.

Auf dem YouTube-Kanal der Diakonie Hessen finden Sie ein Erklärvideo zum Thema.

Literatur

Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V.: Statistikbericht 2018, veröffentlicht am 10.09.2020, online verfügbar unter: https://www.bagw.de/media/doc/STA_Statistikbericht_2018.pdf [06.11.2020]

Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V.: Zahl der Wohnungslosen, online verfügbar unter: https://www.bagw.de/media/doc/PRM_2019_11_11_Schaetzung_Zahl_der_Wohnungslosen.pdf [06.11.2020]

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V.: Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Übernahme von Mietschulden und Energierückständen im SGB II und SGB XII, 11.03.2015, online verfügbar unter: https://www.deutscher-verein.de/de/download.php?file=uploads/empfehlungen-stellungnahmen/2015/dv-17-14-mietschulden.pdf [06.11.2020]

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V.: Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Umsetzung von Maßnahmen zum Wohnraumerhalt in den Kommunen, 16.09.2020, online verfügbar unter: https://www.deutscher-verein.de/de/download.php?file=uploads/empfehlungen-stellungnahmen/2020/dv-30-19_wohnraumerhalt-in-kommunen.pdf [06.11.2020]

Diakonie Bayern: Vermeidung von Wohnungslosigkeit – Leitfaden für die Praxis, online verfügbar unter:https://www.diakonie-bayern.de/fileadmin/Bilder_Dateien/FV_Wohnungsnotfallhilfe_und_Straffaelligenhilfe/Vermeidung_von_Wohnungslosigkeit_-_Leitfaden_fuer_die_Praxis.pdf [18.08.2022]

Diakonie Hamburg: Miet-Schulden? Kündigung? Räumungs-Klage? In diesem Heft steht, was Sie tun können!, online verfügbar unter: https://www.diakonie-hamburg.de/export/sites/default/.content/images/Fachbereiche/ME/Mietschuldenbroschuere-Diakonie-Hamburg-WEB.pdf [06.11.2020]

Landesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg: Prävention von Wohnungslosigkeit – Hinweise und Empfehlungen zu präventiven Maßnahmen zur Verhinderung von Wohnungslosigkeit in Baden-Württemberg, online verfügbar unter: https://www.kvjs.de/fileadmin/dateien/soziales/rundschreiben/2019/rs-1-2019-anlage1-praevention-bf.pdf [18.08.2022]