Das Finanzgericht Rheinland-Pfalz hat entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht schon dann endet, wenn das Kind (vor Erreichen des 25. Lebensjahres) einen ersten berufsqualifizierenden Abschluss erreicht hat, sondern erst dann, wenn das von Beginn an angestrebte Berufsziel einer mehraktigen Ausbildung erreicht ist.
Die Klägerin ist Mutter einer am 22. Dezember 1991 geborenen Tochter, die am 7. Juli 2015 die Abschlussprüfung im Ausbildungsberuf „Immobilienkauffrau“ bestand und ab Oktober 2015 an dem Lehrgang „geprüfter Immobilienfachwirt/geprüfte Immobilienfachwirtin“ der Industrie- und Handelskammer Koblenz (IHK) teilnahm. Voraussetzung für die Teilnahme an der Prüfung zur „geprüften Immobilienfachwirtin“ ist das Bestehen der Abschlussprüfung im Ausbildungsberuf „Immobilienkauffrau“ sowie eine mindestens einjährige Berufspraxis nach abgeschlossener Lehre. Deshalb war die Tochter der Klägerin ab Juli 2015 parallel zu ihrer Ausbildung bei der IHK in einem entsprechenden Ausbildungsbetrieb in Koblenz angestellt.
Mit Bescheid vom 29. Oktober 2015 lehnte die für die Kindergeldfestsetzung zuständige Familienkasse den Antrag der Klägerin auf Kindergeld für die Zeit ab August 2015 ab mit der Begründung, dass die Tochter bereits im Juli 2015 ihre erste Berufsausbildung abgeschlossen und sodann eine Erwerbstätigkeit aufgenommen habe. Deshalb könne die Ausbildung bei der IHK nicht berücksichtigt werden.
Dagegen legte die Klägerin Einspruch ein und machte geltend, ihre Tochter habe das von Beginn an angestrebte Berufsziel „Immobilienfachwirtin“ noch nicht erreicht, das (u.a.) eine mindestens einjährige Berufspraxis in Vollzeit voraussetze.
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhob die Klägerin beim Finanzgericht Rheinland-Pfalz Klage, der stattgegeben wurde. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass die Erstausbildung der Tochter der Klägerin erst mit dem Abschluss der Prüfung zur „geprüften Immobilienfachwirtin“ ende, so dass bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres (= Dezember 2016) Kindergeld zu gewähren sei.
Zur Begründung verwies das Gericht auf die maßgebliche Rechtsgrundlage (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 a Einkommensteuergesetz – EStG), wonach für ein über 18 Jahre altes Kind, das noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld besteht, wenn das Kind für einen Beruf ausgebildet wird. Eine solche erstmalige Berufsausbildung sei – so das Gericht – nicht bereits mit dem ersten (objektiv) berufsqualifizierenden Abschluss in einem öffentlich-rechtlich geordneten Ausbildungsgang beendet. Denn es gebe Ausbildungsgänge, bei denen der erste Berufsabschluss lediglich integrativer Bestandteil eines einheitlichen Ausbildungsgangs sei. Solche mehraktigen Ausbildungsmaßnahmen seien allerdings nur dann als Teil einer einheitlichen Erstausbildung zu qualifizieren, wenn sie zeitlich und inhaltlich so aufeinander abgestimmt seien, dass die Ausbildung nach Erreichen des ersten Abschlusses fortgesetzt werden solle und das von den Eltern und dem Kind bestimmte Berufsziel erst über den weiterführenden Abschluss erreicht werden könne. Liege noch keine abgeschlossene erstmalige Berufsausbildung vor, komme es auf eine Erwerbstätigkeit des Kindes nicht an.
Im vorliegenden Fall sei die Erstausbildung der Tochter somit nicht schon mit dem erfolgreichen Abschluss im Ausbildungsberuf „Immobilienkauffrau“ beendet worden, sondern erst mit dem weiter qualifizierenden Abschluss „geprüfte Immobilienfachwirtin“. Denn dieses Berufsziel habe sie von Beginn an angestrebt, erst über den weiterführenden Abschluss Immobilienkauffrau“ erreichen können und unmittelbar nach dem Ende des ersten Ausbildungsabschnittes im Juli 2015 ohne Unterbrechung ab August 2015 fortgesetzt. Da ihre Erstausbildung nicht im Juli 2015 geendet habe, sei ihre Erwerbstätigkeit ab August 2015 unschädlich.
Kontext der Entscheidung
Heute gibt es zahlreiche Ausbildungswege („mehraktige Ausbildungsmaßnahmen“), die stets die Frage aufwerfen, ob mit dem Erreichen des ersten berufsqualifizierenden Abschlusses das Ausbildungsziel bereits erreicht ist. Denn sollte dies der Fall sein, kann es für den Weiterbezug von Kindergeld bei einer nachfolgenden Fortsetzung der Ausbildung entscheidend sein, ob und wenn ja in welchem Umfang das Kind (neben der Fortsetzung der Ausbildung) zugleich noch erwerbstätig ist. Nach Abschluss einer Erstausbildung sind nämlich nur bestimmte Formen der Erwerbstätigkeit unschädlich (maximal 20 Stunden wöchentlich oder Ausbildungsdienstverhältnis oder nur geringfügige Beschäftigung).
Zu der Thematik liegen bereits einige Entscheidungen des BFH vor, z.B. zum sog. dualen Studium, zum Masterstudium nach vorangegangenem Bachelorstudiengang, zum Besuch der Fachoberschule für Technik nach Ausbildung zum Elektroniker, zum Betriebswirt (VWA) als fachliche Ergänzung oder Vertiefung einer kaufmännischen Ausbildung im Gesundheitswesen. Der zuletzt genannte Fall (BFH-Urteil vom 04. Februar 2016 III R 14/15, BFHE 253, 145, BStBl II 2016, 615) ähnelt dem vom Finanzgericht Rheinland-Pfalz entschiedenen Streit, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: In dem der BFH-Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalt konnte das Kind nach der kaufmännischen Ausbildung nicht – wie im vorliegenden Fall – sogleich mit dem zweiten Ausbildungsabschnitt beginnen, sondern erst nach einer mindestens einjährigen Berufstätigkeit. Diese Berufstätigkeit – so der BFH – führe zu einem Einschnitt (Zäsur), der den notwendigen engen Zusammenhang zwischen den einzelnen Ausbildungsabschnitten entfallen lasse. Es liege daher nur ein die berufliche Erfahrung berücksichtigender Weiterbildungsstudiengang (Zweitausbildung) vor.