31. Dezember 2022

Dr. Dieter Zimmermann (Senior-Prof. an der Evang. Hochschule Darmstadt)

Im Rahmen des Schuldnerschutzes bei Zwangsvollstreckungsmaßnahmen sowie bei privilegierten Aufrechnungen/Verrechnungen von Sozialleistungen ist der Nachweis des „sozialrechtlichen Existenzminimums“ insbesondere in nachfolgend beschriebenen Fallgestaltungen von Bedeutung.

I. Pfändung in den Vorrechtsbereich nach § 850d ZPO

Wegen laufender Unterhaltsansprüche sowie wegen der Unterhaltsrückstände – zumindest! – aus dem letzten Jahr können Unterhaltsberechtigte eine Pfändung in den Vorrechtsbereich nach § 850d ZPO beantragen. Das Vollstreckungsgericht bestimmt daraufhin nach § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO unabhängig vom Grundfreibetrag laut Pfändungstabelle, aber auch unabhängig vom unterhaltsrechtlichen Selbstbehalt laut Düsseldorfer Tabelle den „notwendigen Lebensunterhalt“ des Unterhaltsverpflichteten.

Entsprechend der sozialrechtlichen Systematik sollte sich die Berechnung des unpfändbaren notwendigen Unterhalts des erwerbsfähigen/erwerbstätigen Schuldners eigentlich nach dem SGB II richten (so auch Ahrens in Prütting/Gehrlein, ZPO, 13. Aufl., § 850d Rn. 17ff. m.w.N.; LG Darmstadt 5 T 53/07 vom 26.04.2007 = ZVI 2007, 365 ff.).

Demgegenüber stellt die BGH-Rechtsprechung generell (und nicht nur bei Erwerbsunfähigen) auf den notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des 3. und 11. Kapitels des SGB XII ab (vgl. BGH VII ZB 17/09 vom 05.08.2010; Zöller/Herget, ZPO, 33. Aufl. § 850d Rdn. 7).

Beratungsrelevanz:
Werden Unterhaltsverpflichtete beraten, deren laufende Einkünfte nach § 850d ZPO oder deren Kontoguthaben nach §§ 906 Abs. 1 i.V.m. 850d ZPO einschließlich des Vorrechtsbereichs gepfändet sind, sollte immer der im Pfändungs- und Überweisungsbeschluss konkret zu beziffernde Auszahlungsbetrag anhand der nachstehend abgedruckten SGB XII-Bescheinigung 2023 überprüft werden.
Entspricht der vom Vollstreckungsgericht meist nur grob geschätzte(!) unpfändbare Betrag nicht dem fiktiven sozialhilferechtlichen Existenzminimum, ist ein entsprechender Schuldnerschutzantrag nach § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu initiieren bzw. Erinnerung nach § 766 ZPO einzulegen, um den „notwendigen Lebensunterhalt“ entsprechend anheben zu lassen.

II. Pfändung in den Vorrechtsbereich nach § 850f Abs. 2 ZPO

In vergleichbarer Weise kann ein Deliktsopfer, dessen Vollstreckungstitel den Schadensersatzanspruch aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung ausdrücklich ausweisen muss (ein Vollstreckungsbescheid genügt mangels Schlüssigkeitsprüfung nicht), auf den Vorrechtsbereich gemäß § 850f Abs. 2 ZPO zugreifen. Das heißt, auch Deliktsopfer sind nicht an die üblichen Pfändungsfreigrenzen laut Pfändungstabelle gebunden. Auch hier hat das Vollstreckungsgericht von Amts wegen den „notwendigen Lebensunterhalt“ des Schuldners als Existenzminimum zu bestimmen.

Zusätzlich sind diesem allerdings die Mittel zu belassen, die er zur Erfüllung seiner gesetzlichen Unterhaltsverpflichtungen benötigt. Das heißt, die gesetzlichen Unterhaltsansprüche gehen dem deliktischen Schadensersatz vor.

Herget will im Einklang mit dem BGH auch hier allein auf den notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des 3. und 11. Kapitels des SGB XII abstellen (vgl. Zöller/Herget, ZPO, 33. Aufl. § 850f Rdn. 10; BGH VII ZB 7/11 vom 06.04.2011). Aber da in § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO ausdrücklich zwischen dem „notwendigen Lebensunterhalt“ nach SGB XII einerseits und nach Kapitel 3 Abschnitt 2 des SGB II andererseits differenziert wird, ist hier – systemkonform – zwischen erwerbsfähigen und nicht-erwerbsfähigen Schuldnern zu differenzieren (so auch LG Frankfurt 2-9 T 78/11 vom 06.04.2011 = Rpfleger 2011, 543-544).

Ggf. ist auch hier ein entsprechender Schuldnerschutzantrag nach § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu initiieren bzw. Erinnerung nach § 766 ZPO einzulegen, um den Betrag für den „notwendigen Lebensunterhalt“ entsprechend anheben zu lassen.

Beratungsrelevanz:
Die SGB XII-Bescheinigung kommt beim Schuldnerschutz nach §850f Abs.2 ZPO nur zugunsten nicht-erwerbsfähiger Schuldner zum Einsatz, um insbesondere bei einer Vorrechtsbereichs-Pfändung in Altersrenten, in „volle“ Erwerbsminderungsrenten (für nicht erwerbsfähige Kranke und Behinderte) und beim Bezug von Übergangsgeld die Pfändungsgrenze mit Hilfe des Vollstreckungsgerichts auf den fiktiven SGB XII-Bedarf anheben zu lassen.
Bei Erwerbsfähigen bzw. Erwerbstätigen ist der vom Vollstreckungsgericht festgesetzte unpfändbare Betrag anhand der SGB II-Bescheinigung zu überprüfen.
Ggf. ist auch hier ein entsprechender Schuldnerschutzantrag nach § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu initiieren bzw. Erinnerung nach § 766 ZPO einzulegen, um den Betrag für den „notwendigen Lebensunterhalt“ entsprechend anheben zu lassen.

III. Aufrechnung/Verrechnung von Sozialleistungen bis zur Hälfte

Kommt es wegen privilegierter SGB-Erstattungsansprüche oder wegen rückständiger SGB-Beiträge zur Aufrechnung bzw. Verrechnung von Sozialleistungen, darf nach §§ 51 Abs. 2, 52 SGB I grundsätzlich die Hälfte der Sozialleistung einbehalten werden. Hier obliegt es dem Leistungsempfänger/Schuldner, seine drohende Hilfebedürftigkeit nach SGB II oder SGB XII nachzuweisen und auf diesem Wege die Aufrechnung/Verrechnung zu begrenzen oder ganz abzuwenden.

Beratungsrelevanz:
Gefährdet die Aufrechnung/Verrechnung mit der hälftigen Sozialleistung die wirtschaftliche Existenz des Leistungsempfängers/Schuldners, muss er aktiv werden und dem Sozialleistungsträger nachweisen, dass sein notwendiger Lebensunterhalt nicht mehr gesichert ist. Seit 2005 liegt die Beweislast beim Schuldner.
Kann im Einzelfall – z.B. im Rahmen einer Anhörung, welche jeder Aufrechnung/Verrechnung vorauszugehen hat – kein aktueller Sozialhilfe- oder ALG II-Bescheid vorgelegt werden, ist der Nachweis möglichst durch die entsprechende Bedarfsbescheinigung des Sozialhilfeträgers nach SGB XII oder des Jobcenters nach SGB II zu führen.
Zusätzlich zur entsprechenden Bedarfsbescheinigung wäre nachzuweisen, dass kein verwertbares Vermögen vorhanden ist (z.B. durch Verweis auf eine kürzlich abgegebene Vermögensauskunft, durch eine Pfandlosbescheinigung oder die Insolvenzeröffnung).

Exkurs zu Nachzahlungen:
Rückwirkend lässt sich keine Bedürftigkeit einwenden, so dass bei etwaigen Nachzahlungen (z.B. Sozialrente, Übergangsgeld, Krankengeld) immer der halbe Nachzahlungsbetrag aufgerechnet bzw. verrechnet werden kann.

IV. Unterschiede zwischen SGB II- und SGB XII-Bescheinigung

Die praktischen Auswirkungen, ob das Existenzminimum nach SGB II oder nach SGB XII bestimmt wird, sind relativ gering. Die zu Jahresbeginn 2023 spürbar erhöhten Regelbedarfe und die Pauschalbeträge bei dezentraler Warmwasserbereitung sowie die dynamisierten Bedarfe für Bildung und Teilhabe sind identisch. Auch die sonstigen Rechengrößen für den sozialrechtlichen Bedarf entsprechen sich weitgehend.

Folgende Besonderheiten gilt es festzuhalten:

  • Das SGB XII kennt keinen pauschalen (Mindest-)Absetzbetrag von 100 EUR für Versicherungen, Altersvorsorge und Werbungskosten je Erwerbstätigem. Deshalb sind im Rahmen der SGB XII-Bescheinigung alle Absetzbeträge einzeln nachzuweisen (vgl. Nr. 7 der SGB XII-Bescheinigung).
  • Als pauschaler Erwerbstätigen-Absetzbetrag sind nach SGB XII stets 30% des Einkommens zu berücksichtigen – allerdings gemäß § 82 Abs. 3 SGB XII nach oben begrenzt durch die Hälfte der Regelbedarfsstufe 1 (vgl. Nr. 8 der SGB XII-Bescheinigung bzw. Nr. 5 der Excel-Datei). Somit kann der pauschale Absetzbetrag bei Erwerbstätigkeit nach SGB XII in 2023 auf maximal 251,00 Euro ansteigen.
  • Im SGB II beträgt der pauschale Erwerbstätigen-Absetzbetrag hingegen aktuell noch 20% des Bruttoeinkommens zwischen 100 und bis zu 1.000 EUR. Hinzu kommen 10% des darüber hinaus erzielten Bruttoeinkommens (vgl. Nr. 5.2 der SGB II-Bescheinigung sowie der Excel-Datei). Bei Schuldnern mit mindestens einem minderjährigen Kind in der Bedarfsgemeinschaft fließt das Bruttoeinkommen bis maximal 1.500 EUR in die Berechnung ein; bei kinderlosen Bedarfsgemeinschaften liegt die Obergrenze bei maximal 1.200 EUR. Bis Ende Juni 2023 beläuft sich somit der pauschale Erwerbstätigen-Absetzbetrag mit Kind(ern) in der Bedarfsgemeinschaft auf 230 EUR und ohne Kind auf maximal 200 EUR. Eine spürbare Erhöhung der Absetzbeträge bei Erwerbstätigkeit wurde bereits im BGBl. verkündet, jedoch tritt § 11b Abs. 3 SGB-2023 erst zum 01.07.2023 in Kraft.
    Zusammen mit dem SGB II-Absetzbetrag von 100 EUR für Versicherung, Altersvorsorge und Werbungskosten ergibt sich für den erwerbstätigen Schuldner ein pauschaler Bedarf von 300 bzw. 330 EUR.
  • Unterschiede bestehen auch bei der Berücksichtigung von Versicherungsbeiträgen (nur das SGB II kennt den pauschalen Absetzbetrag von 30 EUR), bei der Arbeitsmittelpauschale (gibt es nur noch im SGB XII in Höhe von 5,20 EUR), bei den Pendlerkosten, bei der doppelten Haushaltsführung und bei der Berücksichtigung von RIESTER-Einzahlungen.
  • Hingegen finden sich sowohl der „unabweisbare Sonderbedarf“ (z.B. wegen der Kosten des Umgangsrechts, wegen Pflegehilfe, Hygienebedarfs oder krankheitsbedingten Mehraufwands), als auch ein jüngst neu kodifizierter „Mehrbedarf für die Anschaffung/Ausleihe notwendiger Schulbücher/Arbeitshefte“ (vgl. § 30 Abs. 9 SGB XII-2022 bzw. § 21 Abs. 6a SGB II-2022), der um die schulisch notwendigen digitalen Endgeräte erweitert werden muss, nun in beiden Garantiebescheinigungen.
  • Ein Absetzbetrag beim Bezug von Grundrenten ist seit 2021 in § 82a SGB XII im Detail normiert, worauf §11b Abs. 2a SGB II verweist. Den Absetzbetrag beim Bezug einer zusätzlichen Altersvorsorge, insbesondere per Betriebsrente oder RIESTER-Vertrag, kennt hingegen nur die SGB XII-Bescheinigung in Umsetzung der Absätze 4 und 5 des § 82 SGB XII.

V. Fazit

Die Schuldner- und Insolvenzberatung sowie viele Sozialleistungsträger bedienen sich zum Nachweis des „sozialrechtlichen Existenzminimums“ der beiden nachstehend abgedruckten Musterbescheinigungen, die in den Infodiensten der Schuldnerberatung vielfach publiziert sind und von Freeman/Zimmermann in ZVI 2011, S. 153-159 sowie im „Praxishandbuch Schuldnerberatung“ (Hrsg. Groth/Homann/Hornung/Maltry u.a., 31. Aufl. Luchterhand-Verlag 2022) eingehend erläutert werden.

Die SGB II-Garantiebescheinigung sollte eigentlich das örtliche Jobcenter ausstellen und die SGB XII-Bescheinigung das örtliche Sozialamt. Verweigert der Sozialleistungsträger vor Ort diese freiwillige Serviceleistung, muss unmittelbar im Schuldnerschutzantrag der (fiktive) SGB II- bzw. SGB XII-Bedarf mit Hilfe der passenden Bescheinigung dargelegt und mittels Belegen umfassend unterfüttert werden.

Hinweis zu Einmalzahlungen: Die aktualisierten SGB-Bedarfsbescheinigungen stellen auf den fiktiven sozialrechtlichen Bedarf ab. Sie sollen die laufenden monatlichen Schuldnereinkünfte dauerhaft in Höhe des sozialrechtlichen Existenzminimums je Monat absichern. So berücksichtigen sie die seit Juli 2022 geltenden laufenden Zuschläge gem. § 72 SGB II-2022 bzw. § 144 SGB XII. Jedoch können Einmalzahlungen wie die 2022 eingeführte „Einmalzahlung für den Monat Juli 2022“ nach § 73 SGB II-2022 bzw. § 145 SGB XII nicht berücksichtigt werden. Diese und evtl. andere Einmalzahlungen lassen die Regelbedarfe unberührt und lassen sich mangels klarer Bezugsdauer auch nicht auf einen monatlichen Durchschnittsbetrag „umrechnen“.
Begegnen der Beratungspraxis spezielle Bedarfslagen (aktuell z.B. die pandemie-bedingten Mehrkosten, die mit den o.g. Einmalzahlungen abgemildert werden sollen), muss ein zusätzlicher Antrag nach § 850f Abs. 1 Nr. 2 ZPO an das Vollstreckungs-/Insolvenzgericht bzw. an die Vollstreckungsstelle des öff. Gläubigers wegen „besonderer Bedürfnisse des Schuldners aus persönlichen Gründen“ gestellt werden.

Vorlagen mit Stand 01.01.2023 nach SGB II und nach SGB XII finden Sie nachfolgend als PDF-Dateien sowie als Zip-Dateien, die jeweils eine Excel-Datei mit Berechnungsfunktionen enthalten,  zum Download.

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